"Das Reizdarmsyndrom ist eine chronisch entzündliche Darmerkrankung mit der Beteiligung von so genannten Mastzellen. Die Stabilisierung dieser Immunzellen durch den Wirkstoff Dinatriumcromoglicinsäure verbessert signifikant und nebenwirkungsarm Bauchschmerzen und Stuhlkonsistenz von Reizdarm-Patienten."
(Lobo und Kollegen, 2017; Philpott und Kollegen, 2011)
"78% der teilnehmenden, von einem Reizdarm betroffenen, Personen zeigten eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms. Die Behandlung der Überwucherung führte zu starken Symptomverbesserungen. Fast jeder zweite Patient erfüllte nun nicht mehr die ROM-Kriterien und hatte somit keinen Reizdarm mehr."
"40% der Teilnehmer mit einem Reizdarmsyndrom zeigten Prädiktoren für eine Glutenunverträglichkeit (NZGS). Nach sechs Monaten glutenfreier Kost erreichten 60% dieser Reizdarmpatienten einen normalisierten Symptomscore. Sie litten nun nicht mehr länger unter Durchfällen und Bauchschmerzen, der Reizdarm war geheilt!"
(Wahnschaffe und Kollegen, 2007)
Du leidest unter den Symptomen eines Reizdarmsyndroms und hast absolut keine Ahnung, von was ich hier gerade rede? Dann sind die folgenden Abschnitte meines Blogs genau richtig und unschätzbar wichtig für DICH!
Zur näheren Erklärung möchte ich gern die Differentialdiagnose der "Somatoformen autonomen Funktionsstörung" anführen. In der ICD-10 (der Internationalen Klassifikation von Erkrankungen) finden wir unter dem ICD-Schlüssel F45.3 die Erkrankung "Colon irritabile". Diese gehört eben zu den somatoformen autonomen Funktionsstörungen. In der Symptomatik gleicht sie dem Reizdarmsyndrom wie ein Ei dem anderen. Die Patienten klagen über Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, Verstopfung und Appetitlosigkeit. Allerdings sind diese Beschwerden auf einen vermutlich "psychogenen" Auslöser zurückzuführen. Diese Betroffenen mit der Diagnose "Reizdarmsyndrom" zu versehen, wäre hoch problematisch! Denn natürlich kennen wir beim Reizdarmsyndrom inzwischen zahlreiche körperliche Ursachen und Krankheitsmechanismen und außerdem würden wir diese beiden Erkrankungen ganz unterschiedlich therapieren. Den Betroffenen mit einer somatoformen autonomen Funktionsstörung verschreiben wir am ehesten eine Psychotherapie, während wir den Reizdarmpatienten verschiedene Mastzellstabilisatoren oder Serotoninmodulatoren verabreichen und ihre Ernährung umstellen.
Ein weiteres Problem besteht in der Abschätzung des Schweregrades der Symptome. Sehr viele Menschen haben ab und an Magen- oder Darmprobleme. Doch nicht jeder Blähbauch oder jeder weiche Stuhlgang ist auch gleich ein Reizdarmsyndrom. Die Symptome der Reizdarmpatienten müssen bestimmte Kriterien erfüllen, um die Diagnosestellung zu rechtfertigen. So müssen die typischen Reizdarm-Beschwerden über einen längeren Zeitraum bestehen und sie müssen so intensiv sein, dass die Betroffenen sie als schmerzhaft und einschränkend empfinden. Die Formulierung dieser Kriterien wurde in den letzten Jahren massiv nachgeschärft (aus dem vagen "Unwohlsein" wurde der handfeste "Bauchschmerz"), was dem Stand der Erkrankung Reizdarmsyndrom sehr gut getan hat. Viele Patienten fühlen sich dadurch inzwischen von ihren Ärzten, aber auch ihrem beruflichen und privaten Umfeld etwas mehr ernst genommen.
Eine vernünftige und trennscharfe Abgrenzung des Reizdarmsyndroms von anderen Erkrankungen ist also unerlässlich!
Die Mediziner der Vierziger und Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts standen vor einem Problem: Sie beobachteten plötzlich zahllose Patienten mit ähnlichen Darmbeschwerden, konnten aber weder eine tatsächliche Ursache, noch konstante Krankheitsmechanismen entdecken (obwohl damals schon erste Vermutungen über infektiöse, immunologische und psychische Ursachen des Reizdarms angestellt wurden). Mangels dieser verbindenden, übergreifenden Merkmale (beim Morbus Crohn wäre dies zum Beispiel die autoimmune granulomatöse Entzündung) behalfen sich die Ärzte eines Tricks und fassten einfach den immer wieder ähnlich auftauchenden Symptomkomplex unter dem "Regenschirmbegriff" Reizdarmsyndrom zusammen. Zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen, welche ganz ähnliche Symptome hervorrufen können, forderten die Mediziner schließlich den Ausschluss aller bekannten alternativen Diagnosen, z.B. chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, mikroskopische Kolitis), Nahrungsmittelallergien und -intoleranzen, Zöliakie, Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, Gallensäureverlustsyndrom usw. Leider funktioniert dieses systematische Ausschließen anderer Erkrankungen, welche für Durchfälle, Bauchschmerzen und Blähungen verantwortlich sein können, in der Praxis mehr schlecht als recht. Erst kürzlich bestätigte eine große britische Meta-Analyse, dass mindestens 30% der Patienten mit der Diagnose Reizdarmsyndrom in Wahrheit unter einer ganz anderen Erkrankung leiden. Den Reizdarm heilen ist für diese Betroffenen tatsächlich möglich - und das auch noch in Rekordzeit!
Der eben beschriebene, etwas unbeholfen wirkende, Schritt hatte erhebliche Konsequenzen für die Patienten. Unter der Diagnose Reizdarmsyndrom fanden sich nun viele Betroffene mit sehr unterschiedlichen Symptomen und Bedürfnissen wieder. Die nervöse untergewichtige Krankenschwester mit Durchfall, Angsterleben und vielen Nahrungsmittelunverträglichkeiten litt nun genauso unter "dem" Reizdarm, wie der etwas dickliche Steuerberater mit Verstopfung, Blähbauch und Sodbrennen. Um den unterschiedlichen Ausprägungen des Reizdarms und den daraus entstehenden Besonderheiten bei Diagnostik und Behandlung gerecht zu werden, unterteilt man das Reizdarmsyndrom heute in verschiedene Kategorien, die so genannten Subtypen.
Die Wissenschaft unterscheidet aktuell vier Subtypen des Reizdarmsyndroms, welche sich entscheidend auf die gewählte Therapie der Erkrankung auswirken. Manchmal tauchen in der Literatur aber noch zwei zusätzliche Unterkategorien der RDS-Diagnose auf.
Dieser Subtyp ist durch das Hauptsymptom Durchfall gekenn-zeichnet. Oft bestehen starke
Bauchschmerzen und Bauchkrämpfe vor dem Durchfall. Die Betroffenen neigen häufig zu Angsterleben, Immunaktivierung, Gewichtsverlust und Darmentzündungen. Oft sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie eine Glutenunverträglichkeit beteiligt.
Die Betroffenen leiden unter massiver Verstopfung und beschreiben häufig das Gefühl, "etwas blockiere ihren Darm". Häufig ist ein aufgetriebener Blähbauch vorhanden. Gas- und Stuhlpassage sind schmerzhaft und nur unter großen Anstrengungen möglich. Die Bauchschmerzen bestehen oft dauerhaft. Trotz mangelndem Appetit nehmen viele Betroffene an Gewicht zu. Häufig finden sich beim RDS-O eine mangelhafte Bereitstellung von Gallensäuren oder eine Dünndarmfehlbesiedlung methanogener Bakterien.
Der "Mischtyp" des Reizdarms wird von vielen Ärzten als "der klassische" Reizdarm angesehen. Längere Phasen mit Verstopfung und hartem Stuhl werden von Tagen mit dünnflüssigem oder breiigem Stuhlgang unterbrochen. Schmerzen und Blähungen sind oft weitere Symptome. Pathophysiologisch ähnelt das RDS-A interessanterweise eher dem Durchfalltyp. Auch die wirksamsten Medikamente wie die Mastzellstabilisatoren oder Serotonin-Modulatoren überschneiden sich zwischen diesen Subtypen.
Beim unkategorisierten Subtyp trifft keine der bisher geschilderten Kategorien zu. Im Gegensatz zu den anderen Subtypen steht nicht die Veränderung der Stuhlfrequenz oder -Konsistenz im Vordergrund, sondern die Schmerzen vor, während oder nach dem Stuhlgang oder auch ein schmerzender Blähbauch. Die Patienten klagen oft über das Gefühl der unvollständigen Darmentleerung.
Vorwiegend im englischen Sprachraum taucht manchmal die Bezeichnungen IBS-P als eigene Subklassifikation auf, um das symptomatische Geschehen noch genauer einzugrenzen. Analog spricht man im Deutschen vom so genannten Schmerztyp oder Blähtyp. Beide gehören eigentlich zum Subtyp RDS Unkategorisiert. Achtung: Treten die Bauchschmerzen ohne einen direkten Zusammenhang zu veränderten Stuhlgewohnheiten oder dem Stuhlgang auf, sind die Kriterien für die Diagnose Reizdarm nicht erfüllt!
Das postinfektiöse Reizdarmsyndrom ist eine Unterkategorie des RDS-D. Definiert ist es dadurch, dass die Reizdarmbeschwerden ursächlich auf eine akute gastrointestinale Infektion (z.B. eine Magen-Darm-Grippe) zurückgeführt werden können. Es finden sich eine chronische Aktivierung des Immunsystems und evidente Entzündungsmarker. Eine akuter Darminfekt stellt einen der stärksten Risikofaktoren für die Entstehung eines Reizdarms in den darauf folgenden Monaten dar. Dass nicht alle Betroffenen einer Magen-Darm-Grippe ein RDS entwickeln, liegt übrigens an inzwischen bekannten genetischen Prädispositionen.
In der Folgezeit entstanden mehrere Kriterienkataloge und Diagnoseleitlinien für das Reizdarmsyndrom. 1989 etablierte sich die heute gängigste Leitlinie, die so genannten ROM-Kriterien, in ihrer ersten Version. Die heute aktuelle 4. Version wurde im Mai 2016 veröffentlicht (siehe u.a. Schmulson & Drossmann, 2017).
Besonders interessant an den ROM-Kriterien als verbreitetsten Empfehlungen zur Diagnose und Behandlung des Reizdarms für Ärzte ist deren inhaltliche Weiterentwicklung. Wurde das Reizdarmsyndrom anfangs noch als "funktionelle Störung" (also ohne auffindbare körperliche Ursache) bezeichnet, meiden die ROM-IV-Kriterien diesen unspezifischen und stigmatisierenden Begriff. Stattdessen sprechen sie vom Reizdarmsyndrom als einer "Störung mit Beteiligung der Hirn-Mikrobiom-Darm-Achse". Dies ist für unsere Community ein enormer Fortschritt, um von der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik ernster genommen zu werden! Und er ist auch wissenschaftlich folgerichtig, denn inzwischen sind gleich mehrere Ursachen und Krankheitsmechanismen hinter dem Reizdarm bekannt.
Die genaue Definition des Reizdarms finden wir unter der übergeordneten Kategorie "Erkrankungen mit Störungen der Hirn-Darm-Achse". Auch dieses wichtige Konzept möchte ich für dich kurz beleuchten:
Erkrankungen mit Störungen der Hirn-Darm-Achse sind ...
eine Gruppe von Erkrankungen, definiert durch gastrointestinale Symptome bezogen auf (auch in Kombination)
Die durch die Wissenschaft neu erhobenen körperlichen Mechanismen beim Reizdarmsyndrom haben hier also bereits Eingang gefunden. Von unseren Einführungszitaten ließe sich die Mastzellaktivierung der Kategorie "veränderte Immunfunktion", die Dünndarmfehlbesiedlung hingegen der Kategorie "Darmflora" zuordnen.
Im Übrigen wurde der schwammige Begriff "Unwohlsein" in der neuen ROM-Version durch den deutlich praktischeren Begriff "Bauchschmerzen" ersetzt.
Nun benötigen wir aber noch eine genaue Definition und stichhaltige Kriterien, um das Reizdarmsyndrom auch sicher diagnostizieren zu können.
Wiederkehrende abdominale Schmerzen (Bauchschmerzen), im Durchschnitt an mindestens einem Tag pro Woche der vergangenen drei Monate. Die Bauchschmerzen stehen in Verbindung mit mindestens zwei der folgenden Kriterien:
Die Symptome müssen bereits mindestens sechs Monate vor der Diagnosestellung bestanden haben.
Alternative Ursachen müssen ausgeschlossen worden sein. (siehe Tests & Diagnostik).
Du siehst, dass selbst hier noch ein enormer Spielraum bei der Diagnosefindung besteht. Zwischen einem Patienten, der einmal wöchentlich Schmerzen vor dem Stuhlgang und vielleicht etwas weicheren Stuhl hat und einem ausgeprägten postinfektiösen Reizdarm mit Immunaktivierung, Entzündungen, wässrigen Durchfällen und Gewichtsverlust besteht dann doch ein gehöriger Unterschied!
Wichtig ist mir aber eher, dass du dir folgendes aus diesem Abschnitt mitnimmst: Das Reizdarmsyndrom ist sehr wohl durch spezifische körperliche Veränderungen gekennzeichnet. Die wissenschaftlichen Daten zu diesen Krankheitsmechanismen sind so evident, dass sie sich auch auf die Formulierung der Diagnoseleitlinien niederschlugen. Bitte weise deinen Arzt, dein Umfeld und andere Betroffene darauf hin, falls diese noch andere Dinge verbreiten, damit der Mythos der "Beschwerden im Kopf" (der leider immer noch manchmal gepflegt wird) möglichst bald auf dem "Misthaufen der Medizingeschichte" landet.
Die globale Prävalenz des RDS liegt bei knapp 11% der Weltbevölkerung, mit sehr niedrigen Raten in bspw. Thailand (5%) und Hongkong (6%) und sehr hohen Betroffenenzahlen in den Vereinigten Staaten (20%) und Großbritannien (Canavan & Card, 2014). In einer deutschen Untersuchung lag die Prävalenz bei 16,6% (Althaus und Kollegen, 2016). Diese Studie war noch aus einem anderen Grund sehr interessant: Als größter Risikofaktor wurde eine vorausgehende gastrointestinale Infektion ("Magen-Darm-Grippe") ermittelt. In einer weiteren deutschen Untersuchung berichteten über 20% der befragten Studentinnen von Symptomen, welche die Diagnose Reizdarm rechtfertigten (Gulewitsch und Kollegen, 2011).
Ob die Verbreitung des Reizdarms tatsächlich zunimmt, lässt sich nur schwer abschätzen. Zwar legen die ständig steigenden Zahlen diesen Schluss nahe: Viele europäische Länder nähern sich in den letzten Jahren dem 20%-Peak der USA an, was eine Hypothese bezüglich des westlichen Lebensstils (Antibiotika, wenig Ballaststoffe, verarbeitete Lebensmittel, Stress) plausibel werden lässt. Allerdings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sich sowohl die Umfragemethoden, als auch die Bekanntheit der Erkrankung in den letzten Jahren geändert haben. Ein endgültiges Urteil zu fällen, wäre da sicher vorschnell.
Frauen sind in vergangenen Studien deutlich häufiger von einem Reizdarm betroffen. Die Quote Frau:Mann liegt bei 1,5-3:1 und zwar unabhängig von der Befragungsmethode (Quigley et al., 2006). Allerdings vermuten viele Forscher hier das Vorliegen eines statistischen Artefaktes. Bekannt ist unter anderem, dass Frauen deutlich häufiger zum Arzt gehen und über gesundheitliche Probleme sprechen. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dass die schambesetzten Darmsymptome wie Durchfall oder Blähungen von Frauen eher als störend empfunden werden, während Männer damit aufgrund ihrer Sozialisation entspannter umgehen können. In vielen aktuelleren Studien gleicht sich diese Schere deutlich an, was für die Hypothese eines hohen Dunkelfeldes beim männlichen Geschlecht spricht.
Das Reizdarmsyndrom ist eine Erkrankung der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen. Über 50% der Betroffenen berichten, dass ihre Beschwerden vor dem 35sten Lebensjahr begannen (Maxwell et al., 1997). Obwohl wir den Reizdarm in allen Generationen finden (auch bei Kindern und Senioren), sind junge Erwachsene besonders stark betroffen. Das Alter scheint hingegen einen gewissen Schutz zu bieten: In der Altersgruppe der über 50jährigen liegt die Betroffenenquote satte 25% niedriger!
Weiterhin scheint das Reizdarmsyndrom mit dem Wohlstand unserer Gesellschaft (vermittelt über den sozioökonomischen Status) in Verbindung zu stehen. Wohlsituierte Menschen in großen Städten leiden deutlich häufiger unter einem Reizdarm (u.a. Mendall & Kumar, 1998). Vermutet werden Faktoren wie Stresserleben in Dienstleistungsberufen und veränderte Ernährungsgewohnheiten. Auch dass Schwellenländer wie China oder Brasilien sich mit zunehmender Industrialisierung und Digitalisierung den westlichen Betroffenenquoten annähern, scheint diese Vermutungen zu untermauern.
Schließlich ist der Reizdarm auch eine Erkrankung der Familie. Das Reizdarmsyndrom kommt gehäuft in Familien vor. Das Risiko an einem Reizdarm zu erkranken verdoppelt sich, wenn du einen direkten Verwandten (Mutter, Vater, Geschwister) mit dieser Erkrankung hast (Locke et al., 2000). Durch die Wissenschaft bestätigt wurden inzwischen sowohl genetische Zusammenhänge, Lernprozesse und die Weitergabe der Neigung zur Somatisierung, sowie natürlich geteilte Lebenswelten (vor allem eine ungünstige Ernährungsweise).
Vielfältige Risikofaktoren für das Leiden an einem Reizdarmsyndrom wurden bereits durch die moderne Forschung etabliert. Im Folgenden zähle ich die wichtigsten auf und zwar geordnet nach der Stärke der Assoziation. Das weibliche Geschlecht hat also stärkere Auswirkungen auf das Risiko, an einem Reizdarm zu erkranken, als beispielsweise ein erhöhter BMI oder Schichtarbeit.
Keine Angst! Auf die allermeisten dieser Risikofaktoren des Reizdarms, vor allem aber auf die Infektionen, die psychischen Besonderheiten und die Ernährungskomponente werden wir in den Unterkapiteln noch vertiefend eingehen. Wichtig ist mir erst einmal, dass du eine ungefähre Vorstellung davon bekommst, was bei der Entwicklung eines Reizdarmsyndroms alles eine Rolle spielen kann. Wir sprechen von einer biopsychosozialen Genese. Das bedeutet nichts anderes, als dass sowohl biologische (Infektion und Immunaktivierung, Genetik), psychologische (Angsterleben, Stress, Emotionen) als auch soziale Faktoren (Lernverhalten innerhalb der Familie - Sozialisation) an der Entstehung und Aufrechterhaltung des Reizdarmsyndroms beteiligt sind.
"Du bist doch gar nicht wirklich krank, sonst hätte doch schon längst mal ein Arzt etwas gefunden",
"Du darfst eben nicht so in dich reinhorchen! Reiß dich doch bitte mal etwas zusammen, andere gehen auch mit >ein bisschen< Bauchschmerzen zur Arbeit", oder
"Du musst einfach ausgewogener essen! Wenn du keine Zöliakie und keine Laktoseintoleranz hast, dann haben diese Dinge auch keinen Einfluss auf deine angebliche Darmerkrankung"
anhören?
Einige dieser unbegründeten Behauptungen haben sich so tief in die Köpfe eingegraben, dass die Diagnose Reizdarm heute mit einer enormen Stigmatisierung verbunden ist (Taft und Kollegen, 2017). Die Reizdarmpatienten fühlen sich dabei weitaus stärker stigmatisiert als Betroffene von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Viele Patienten fühlen sich von ihrem persönlichen Umfeld, ihren Familien, Freunden und Kollegen nicht ausreichend verstanden und mit ihren Symptomen und Herausforderungen durch die Erkrankung nicht ernst genommen.
Durch das inzwischen mehr als sechs Jahrzehnte andauernde Herunterbeten der falschen Behauptung "die Symptome des Reizdarms entstünden in erster Linie im Kopf der Betroffenen" haben sich dieses und ähnliche Stigmata auch in das Selbstbild der RDS-Betroffenen eingegraben (Taft und Kollegen, 2014). Die erlebten und internalisierten Stigmatisierungen im Rahmen des Reizdarmsyndroms mindern die Lebensqualität der Betroffenen zusätzlich.
Und schließlich sind auch Ärzte nicht vor diesen Fehlannahmen gefeit. So sieht auch im Jahre 2018, nach den Erkenntnissen zu Lipopolysacchariden, Mastzellen und hyperpermeabler Darmschleimhaut (Leaky Gut Syndrom), die absolute Mehrheit der Allgemeinmediziner in Großbritannien den Reizdarm als hauptsächlich psychologische Erkrankung (Bradley und Kollegen, 2018). Das ist ein wirklich erschreckender Befund. Er erklärt aber auch, warum sich so viele Reizdarmbetroffene mit ihren Beschwerden allein gelassen fühlen und mit der Zeit oft eine wahre Wut auf die Ärzteschaft entwickeln. Dies trägt sicherlich auch dazu bei, dass sich letztlich mehr als jede zweite Reizdarmpatientin der Naturheilkunde zuwendet (Goldenberg und Kollegen, 2018).
Der Reizdarm kann als "Erkrankung der Moderne" bezeichnet werden. Ähnlich wie die Geschichte des Morbus Crohn oder der Colitis ulcerosa reicht die medizinische Beschäftigung mit dem Reizdarmsyndrom nämlich nicht besonders weit zurück. Alles begann damit, dass sich in den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika viele Ärzte mit einer neuen Patientengruppe konfrontiert sahen: Die in der Überzahl weiblichen Betroffenen klagten über Bauchschmerzen und Durchfälle, doch die von vielen Ärzten vermutete Infektion ließ sich nicht nachweisen. Auch die anderen (damals verfügbaren) Tests lieferten kein klärendes Ergebnis. Könnte die Ursache vielleicht psychisch begründbar sein? Die unheilvolle Geschichte einer Erkrankung nahm ihren Lauf …
Ein Dr. Wilson beschreibt im British Medical Journal erstmals eine Darmerkrankung, die er "Katarrh des Dickdarms" nennt. Nach Wilson ist diese Krankheit häufig und durch den Abgang von Schleim beim Stuhl gekennzeichnet. Die Darmschleimhaut ist gereizt, die Muskulatur oft überaktiv. Es finden sich keine Ulzerationen oder anderen körperlichen Veränderungen.
Dr. Fred Kruse beschreibt im Western Journal of Medicine die Schwierigkeiten mit der Namensfindung, sowohl Spastisches Kolon, Gereiztes Kolon oder auch Colitis mucosa waren gebräuchlich; als auch die Probleme im Umgang mit den Patienten. Letztere charakterisiert er als "intelligent und analytisch, aber fehlgeleitet". Er interpretierte die Erkrankung als Dysregulation des Darmnervensystems und empfahl u.a. Spasmolytika, Ruhe und Entspannung. Auch der Begriff "Neurose des Darms" wird genutzt. Es wird eine einfache, den Darm nicht irritierende Kost empfohlen.
Das Reizdarmsyndrom wird unter diesem Namen von Dr. P. Brown in seinem einflussreichen Artikel im Rocky Mountain Journal of Medicine vorgestellt.
Die Drs. Chaudhery und Truelove veröffentlichen ihre Studie zur Kategorisierung von Reizdarmpatienten in Oxford. Sie beschreiben das Reizdarmsyndrom als Erkrankung des weiblichen Geschlechts. Das Reizdarmsyndrom wird in zwei Untergruppen geteilt: Das Spastische Kolon (Bauchschmerzen in Kombination mit Durchfall oder Verstopfung) und Funktionelle Diarrhö (Durchfall) ohne Schmerzen. Beide Kategorien zeigen eine stark ausgeprägte psychische Beteiligung (77-90%). Es werden erste Ernährungstrigger (vor allem Fruktose bzw. Fruchtzucker) erwähnt.
Aufgrund der Ergebnisse von Chaudhery und Truelove werden immer mehr Untersuchungen zur psychischen Verfassung und Persönlichkeitsstruktur von Reizdarmbetroffenen angestellt. Die Darmerkrankung erhält immer mehr das Stigma der "Neurose der überreizten, nervösen und unsicheren Frau". Dies wird sowohl durch das damals herrschende Frauenbild, als auch die fehlgeschlagenen Bemühungen, endlich eine körperliche Ursache für den Reizdarm ausfindig zu machen, unterstützt. 1974 ziehen Palmer und Kollegen eine Verbindung vom Reizdarmsyndrom zu psychoneurotischen Erkrankungen.
Progressive Wissenschaftler versuchen das Darmnervensystem und die Verdauung zum Ziel ihrer Bemühungen zu machen. Erste erfolgreiche Studien zur Behandlung des Reizdarms mit Pfefferminzöl, pharmakologischen Spasmolytika und Ballaststoffen werden publiziert.
Dennoch scheint sich die "psychologische Denkweise" durchzusetzen. Das Reizdarmsyndrom wird zu einem Fall für die Couch der Psychotherapie. Dr. Jiwani beschreibt als oberstes Ziel der Behandlung des Reizdarms eine "psychische Reorientierung des Patienten und eine nachhaltige Persönlichkeitsänderung".
Die 80er Jahre sind vom Widerstreit der beiden Hypothesen "vorwiegend psychische Erkrankung" und "vorwiegend körperliche Mechanismen" geprägt. Vertreter der biologischen Sichtweise betonen, die festgestellten psychologischen Besonderheiten seien eine Folge der Schmerzen und Einschränkungen durch die Erkrankung. Sie veröffentlichen Arbeiten zur Unverträglichkeit von verschiedenen Kohlenhydraten (Fruchtzucker und Milchzucker), sowie erste Erkenntnisse zu den Mastzellen. Vertreter der Idee einer "psychogenen Erkrankung" befeuern die Debatte ebenfalls. Die Drs. Creed und Guthrie merken 1987 an, dass ca. 50% der mit einem Reizdarm diagnostizierten Personen die Diagnose für eine psychiatrische Störung erfüllten.
Untersuchungen deuten an, dass Patienten mit einem Reizdarm eher über traumatische Kindheitserlebnisse berichten, was als Beleg für die Hypothese der psychogenen Erkrankung gewertet wird.
Es wird über die erhöhte viszerale Hypersensitivität der Patienten berichtet. Reizdarmbetroffene reagieren früher und stärker auf Reize im Darm. Eine Verbindung zum Darmnervensystem wird vermutet. Erste Erkenntnisse deuten die Existenz eines postinfektiösen Reizdarms mit Immundysregulation an.
Die symptomatische medikamentöse Behandlung des Reizdarms tritt in den Vordergrund. Mittel der Wahl sind Loperamid (gegen Durchfall), Laktulose (gegen Verstopfung), Mebeverin (gegen Bauchkrämpfe). Der Begriff der "funktionellen Störung" findet vermehrt Anklang. Innerhalb der Psychotherapie bewähren sich besonders die Darmhypnose und die Kognitive Verhaltenstherapie. Viele Psychologen sind zu diesem Zeitpunkt bereits der Meinung, die Psychotherapie könne helfen, die Beschwerden besser zu bewältigen, aber nicht zu heilen.
Das low-FODMAP-Konzept der Reizdarm-Ernährung wird von den Drs. Shepherd und Gibson formuliert. Es handelt sich um für den Reizdarm problematische Kohlenhydrate, welche bei der Fermentation durch die Darmflora Gase bilden und osmotische Effekte provozieren. Die Idee, "der RDS-Patient könne essen, was er wolle" gerät ins Wanken.
Erste Untersuchungen zeigen eine Verbindung des Reizdarmsyndroms zu einer gestörten Darmflora (Dysbiose). Die Behandlung mittels Ernährungsumstellung, Probiotika, Präbiotika und Stuhltransplantation gerät in den Fokus der Wissenschaft.
Die Dünndarmfehlbesiedlung wird als Ursache des Reizdarms diskutiert. Viele Patienten werden nach einer speziellen Antibiose erstmals beschwerdefrei.
Die Hirn-(Mikrobiom)-Darm-Achse wird beschrieben und erklärt den engen Zusammenhang zwischen Darmsymptomen und verändertem Erleben und Verhalten der Patienten.
Die Hypothese der psychogenen Erkrankung gerät (zumindest in der Wissenschaft) immer mehr ins Wanken. Neal und Kollegen weisen darauf hin, dass die enorm hohen Raten psychischer Auffälligkeiten nicht den tatsächlichen Betroffenenquoten entsprächen, sondern einer Vorselektion des geringen Teils der Reizdarmpatienten, welche eine Klinik aufsuchten. Studien hatten gezeigt, dass RDS-Patienten eher einen Arzt aufsuchen, wenn sie unter Ängsten oder Depressionen litten.
Deutsche Wissenschaftler zeigen Verbindungen des Reizdarms zur Zöliakie. Ernährten sich in Unterstuchen Patienten mit einem Reizdarm glutenfrei, verschwanden ihre Beschwerden mitunter vollständig.
Die Serotoninrezeptoren geraten in den Blickpunkt der Wissenschaft. Eine neue wirkungsvolle Generation von Medikamenten wie Alosetron, Ramosetron und Tegaserod entsteht. Einige Medikamente müssen aufgrund von Nebenwirkungen reguliert oder vom Markt genommen werden.
Die Forschungen zum Thema Mastzellen, Mikroentzündungen und Darmbarriere steigen sprunghaft an. Das Reizdarmsyndrom wird mit Mastzellstabilisatoren und Antihistaminika behandelt. Auch die Publikationen zum Mikrobiom bzw. der Darmflora nehmen zu. Es entsteht, getragen durch das Gesundheitsinternet, ein enormer Markt für Probiotika, Stuhltests etc. Viele Betroffene fühlen sich von der Informationsflut überfordert.
2016 verabschieden sich die ROM-IV-Kriterien langsam aber sicher vom mit Stigmata aufgeladenen Begriff der "funktionellen Störung".
Inzwischen hat sich die Sicht des Reizdarms als biopsychosozialer Erkrankung durchgesetzt. Biologische Faktoren stehen im Vordergrund, doch die Auswirkungen von Stress oder emotionalen Traumata auf die Darmflora und das Immunsystem sind eben auch evident. Die wirkungsvolle Behandlung des Reizdarmsyndroms gestaltet sich deshalb heute holistisch und beruht auf mehreren Säulen: zielgerichtete ursächliche Medikation (Mastzellen, Serotonin), Ernährungsumstellung und Supplemente (Mikrobiom), evtl. Psychotherapie oder Stressmanagement (Psychoneuroimmunologie und Bewältigung).
Trotz der unglaublichen wissenschaftlichen Fortschritte finden die neuen Erkenntnisse keinen Eingang in die Arztpraxen. Laut Studien glaubt ein Großteil der niedergelassenen Ärzt immer noch an psychologische Ursachen des Reizdarmsyndroms.
Immer mehr Interventionsstudien demonstrieren, dass dein Reizdarm heilbar ist. Die ursächliche Reizdarm-Behandlung zum Erlangen der Beschwerdefreiheit kann dabei auf zwei Wegen erfolgen. Zum einen ist nun bekannt, dass sich in über 30% der Fälle in Wirklichkeit eine andere Erkrankung hinter dem vermuteten Reizdarm verbirgt. Dazu gehören u.a.
Die Behandlung vieler dieser Störungen führt zu einer deutlichen Linderung oder sogar Heilung des Reizdarmsyndroms!
Doch auch jene Patienten mit einem "wirklichen" (meist post-infektiösen) Reizdarm können nun hoffen. Auch ihr RDS war in wissenschaftlichen Untersuchungen jetzt durchaus heilbar. Mittel der Wahl zum Erreichen dieses therapeutischen Durchbruchs waren etwa die Reizdarm-Stuhltransplantation mit einem Super-Spender, aber auch die dauerhafte Mastzell-Stabilisierung.
Neue breit-verfügbare Techniken wie Atemgas-Tests oder die DNA-Sequenzierung des Mikrobioms können den Betroffenen nun bereits vor Therapiebeginn verraten, ob diese am ehesten von einer Ernährungsumstellung, einer Stuhltransplantation oder einer Medikamentengabe profitieren werden.
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