Es gibt eigentlich kaum ein Thema (außer vielleicht noch Antibiotikagaben), das bei Reizdarm- Betroffenen und in Medizinerkreisen so kontrovers diskutiert wird, wie die diätetische Zufuhr von
Ballaststoffen. Aus unserer Erfahrung mit vielen Klienten kann ich berichten, dass die allermeisten Reizdarmpatienten ein großes Problem bei der Verdauung von Ballaststoffen haben (typischer
Kommentar: "Ich kann einfach nichts gesundes essen, mit Süßkram und Weißmehlprodukten geht es mir am besten"). Die Fermentation dieser für den Menschen erst einmal unverdaulichen Fasern wird von
unseren Darmbakterien übernommen. So können Ballaststoffe den Erhalt eines gesunden Mikrobioms fördern, aber auch eine pathogen entwickelte Flora "anheizen". Die Forschung spricht eigentlich eine
recht eindeutige Sprache: So werteten Ford und Kollegen (2008) in ihrer Metaanalyse 12 klinische Untersuchungen aus, welche Ballaststoffe mit Placebo verglichen. 52% der mit
Ballaststoffen "behandelten" Betroffenen blieben ohne jegliche Besserung, während es in den Placebogruppen 57% waren. Dieser kleine Unterschied verschwand aber sogar vollends, wenn nur die sieben
qualitativ hochwertigen Studien einbezogen wurden. Die Number-needed-to-treat lag mit 11 recht hoch (zum Vergleich: Pfefferminzöl in der selben Metaanalyse mit 2,5). Dennoch gibt es in den
Allgemeinarztpraxen eine Art Heuristik für Vollkorn, mehr Gemüse und zusätzliche Ballaststoffe in Form von Supplementen zu werben und auch die Medien erzählen uns jeden Tag, welche
Wunderwirkungen Ballaststoffe auf unseren Körper und die Prävention vieler verschiedener Erkrankungen, von Darmkrebs bis Herzleiden, zu haben scheinen. Schauen wir uns doch einmal an, was davon
übrig bleibt, wenn man sich einmal ein paar Studien zur Hand nimmt.
Ballaststoffe als der Heilige Gral gesunder Ernährung
Wenn wir mit Reizdarmpatienten beratend zusammenarbeiten, stoßen wir sehr häufig an eine unsichtbare Mauer, wenn wir das Thema Ballaststoffe ansprechen. Sehr viele unserer Klienten verwenden seit
vielen Jahren Supplemente wie Flohsamenschalen oder versuchen ihre Ballaststoffzufuhr über Vollkornprodukte, Kleie, Leinsamen und viel Obst und Gemüse gezielt zu steigern. Oft merken sie gar
nicht (oder wollen nicht merken), dass es ihnen mit dieser Praxis sogar schlechter geht, als vorher. Ich gehe davon aus, dass es sich inzwischen bis zu den meisten Betroffenen
herumgesprochen hat, dass zusätzliche Ballaststoffe keinen nachweisbaren Effekt auf das Reizdarmsyndrom haben (siehe obige Metaanalyse). Am ehesten helfen sie noch dem Verstopfungstypus.
Sehr oft raten wir unseren Klienten, den Anteil fermentierbarer Substrate (resistente Stärke, Ballaststoffe, Fruktose, Laktose, Zuckeralkohole etc. - eine Art erweiterter low-FODMAP-Ansatz) erst
einmal zu reduzieren. Das lindert die Symptome und ermöglicht eine Art Wettbewerb der Darmbakterienstämme. Hierzu muss man wissen, dass probiotische Stämme mit spezifischen Überlebensmechanismen
ausgestattet sind. So können sie sich bspw. vom Mucus der Darmschleimhaut ernähren und sind nicht unbedingt auf zusätzliches Futter in Form von Ballaststoffen angewiesen. Ist eine biodiverse und
regelrechte Darmflora durch Ernährungsumstellung und Supplemente wieder hergestellt, steigern wir die Zufuhr wieder langsam, um die Zahl probiotischer Bakterien wieder zu erhöhen. Auch FODMAPs
werden wieder eingeführt, denn eine langfristige Elimination vermindert u.a. die Population probiotischer Bifidobakterien (u.a. Khan und Kollegen, 2015).
Wenn wir nun also diese schon oft erprobte Strategie mit unseren Klienten besprechen, stoßen wir regelmäßig auf großen Widerstand. Das erste, was wir dann tun, ist diesen Studien vorzulegen, die
belegen, dass Ballaststoffe für den Reizdarm nicht effektiver sind als Placebos. Doch selbst wenn unsere Klienten diese bittere Pille rationaler Wahrheit schlucken, so kommt sofort das Argument
der enormen gesundheitlichen Vorteile. Schließlich haben wir alle schon in Dokus gesehen und in seriösen Zeitschriften gelesen, was Ballaststoffe nicht alles verhindern können: das Spektrum
reicht dabei von Fettleibigkeit bis Krebs.
Ist es also wirklich gesundheitlich gefährlich, die Ballaststoffe einige Zeit auf jene Fasern aus Gemüse und etwas Obst zu reduzieren, selbst wenn dies nur für einen überschaubaren Zeitraum
ist?
Cholesterin, Herzkrankheit, Schlaganfall und Krebs
Eine Hypothese, die gern für die Ballaststoffe ins Feld geführt wird, ist die Vermutung, dass Ballaststoffe den Cholesterinspiegel senken und somit einen Risikofaktor für koronare Herzkrankheit,
Schlaganfall und verschiedene Krebsleiden günstig beeinflussen könne. Diese Annahme beruht u.a. auf einer Studie von Van Horn und Kollegen aus dem Jahr 1986. Eine zwölfwöchige Zufuhr von 60g
Haferkleie täglich hatte den Cholesterinspiegel um 3% gesenkt. Bei der Interpretation wurde aber wohl vernachlässigt, dass die Teilnehmer zusätzlich auf eine Diät gesetzt wurden, die nunmehr sehr
wenig Fett enthielt.
Swain und Kollegen lieferten 1990 den Gegenbeweis. In ihrer randomisierten Doppelblindstudie gaben sie ihren Probanden entweder 87g
Haferkleie oder 87g eines ballaststoffarmen Weizenproduktes. Die Änderungen des Cholesterinspiegels unterschieden sich nicht und sind somit nicht durch die Ballaststoffe, sondern eher durch die
Ernährungsumstellung im Sinne von weniger Fett zu erklären.
An diesem Punkt muss auch darauf hingewiesen werden, dass die vermuteten Zusammenhänge zwischen Ernährung, Cholesterinspiegel und den oben genannten Erkrankungen aktuell heftig debattiert werden
(Stichwort: Butter und Eier sind gar nicht so gefährlich).
Fazit: Zusätzliche Ballaststoffe senken den Cholesterinspiegel nicht.
Ballaststoffe und Herzgesundheit
Neben der Cholesterinhypothese sorgte noch eine zweite Beobachtung für Aufmerksamkeit: In zwei großen epidemiologischen Studien wurde berichtet, dass Menschen, die relativ viel Ballaststoffe
konsumieren (etwa 35g pro Tag) ein geringeres Risiko hatten, an koronarer Herzkrankheit zu erkranken. Schauen wir uns eine der beiden Untersuchungen doch etwas genauer an:
Eshak und Kollegen (2010) beobachteten fast 60.000 Japaner über einen Zeitraum von 15 Jahren. Aus Ernährungstagebüchern
wurde ihr Ballaststoffkonsum überschlagen und ins Verhältnis zu den Toden aufgrund von Herzkrankheiten gesetzt. So verglich man bspw. jene Gruppe, welche im unteren Fünftel der Ballaststoffmenge
lag mit jener, welche das oberste Fünftel bildete. Die Japaner, die relativ viel Ballaststoffe aus Früchten und Getreide aßen, hatten eine geringere Rate an herzbedingten
Todesfällen.
Wo liegt das Problem bzw. gibt es überhaupt eins?
Ja, und sogar ein bedeutendes: Epidemiologische Beobachtungsstudien sagen erst einmal rein gar nichts über einen Ursache- Wirkungs- Zusammenhang.
Warum ist das so?
Können Sie sich einen anderen Grund vorstellen, warum das obere Fünftel weniger Herzkrankheiten hatte? Denken wir doch einmal darüber nach, wer in der Regel viele Ballaststoffe (Obst, Gemüse,
Vollkornprodukte) verzehrt: Besonders gesundheitsbewusste Menschen, zum Beispiel Vegetarier. Was zeichnet diese Gruppe noch aus? Sie raucht weniger, trinkt weniger Alkohol, treibt mehr Sport,
geht häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen und anderen Präventionsangeboten usw., kurz: Sie macht wahrscheinlich genau das Gegenteil vom unteren Fünftel. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass
sich diese nachweislich gesundheitsfördernden Maßnahmen (bspw. Ausdauertraining) auf die Todesrate ausgewirkt haben, als der Ballaststoffverzehr? Um diese Frage zu klären, hätten diese
zusätzlichen Variablen nämlich ausgeschlossen werden müssen. Wir müssten dafür eine Gruppe mit 35g Ballaststoffen pro Tag mit einer Gruppe mit bspw. nur 10g vergleichen. Beide Gruppen müssten
aber anhand ihrer Lebensgewohnheiten (Bewegung, Ernährung, Stress, Rauchen, Alkohol etc.) statistisch vergleichbar sein.
An dieser Stelle möchte ich eine Studie anführen, welche sogar das Gegenteil nahelegen könnte. Burr und Kollegen (1989) untersuchten
die Auswirkung von diätetischen Empfehlungen auf Männer, die einen Herzinfarkt erlitten hatten. Während die Gruppe, welche mehr fetten Fisch konsumierte ihre Zweijahressterblichkeit um fast
ein Drittel(!) reduzierte, erhöhte sich die Zweijahressterblichkeit in der Ballaststoffgruppe (doppelte Ballaststoffzufuhr aus Vollkorngetreide) um satte
20%!
Fazit: Es gibt keinen eindeutigen Hinweis auf eine positive Wirkung von Ballaststoffen auf die Herzgesundheit!
Aber wenigstens schützen sie vor Darmkrebs, oder?
Leider müssen wir Sie hier wohl ebenfalls enttäuschen ...
Fuchs und Kollegen publizierten 1999 eine Untersuchung an beinahe 90.000 Frauen. Über den Beobachtungszeitraum kam es zu fast 800
Fällen von Darmkrebs. Nach der Adjustierung bezüglich Alter, Risikofaktoren und Energieaufnahme (Kalorien) konnte nicht einmal eine geringe Verbindung zwischen Ballaststoffzufuhr und Darmkrebs
gefunden werden. Selbst das unterste und das oberste Quintil unterschieden sich nicht signifikant.
Uchida und Kollegen verglichen 2010 Fälle von Darmkrebs mit gesunden Kontrollpersonen hinsichtlich ihrer diätetischen
Angaben. Die Ergebnisse zeigten keinen Zusammenhang zwischen Ballaststoffkonsum und Darmkrebs. Es gab sogar ein überraschendes Ergebnis: Der Konsum von weißem Reis (ballaststoffarm) war mit
einem geringeren Darmkrebsrisiko assoziiert (Vorsicht, hier können ebenfalls andere Variablen eine Rolle spielen). Auch der Verzehr von Gemüse zeigte keine günstige oder negative Wirkung auf die
Entwicklung der Krebsart.
Fazit: Auch diese Aussage vieler Ernährungsberater und Ärzte lässt sich nicht belegen.
Schadet eine ballaststoffarme Diät dem Reizdarm?
Eine Forschergruppe um Keith zeigte 2005, dass eine ballaststoffarme Diät die Fermentationsraten bei Reizdarmpatienten
drastisch reduziert. Es wurde sehr viel weniger Gas produziert und eine starke Verbesserung der Symptome war die zu erwartende Folge. Kurzfristig ist diese Strategie also durchaus sinnvoll
und empfehlenswert.
Später muss auf eine entsprechende Wiedereinführung wert gelegt werden, um die bereits oben erwähnten negativen Effekte auf probiotische Bakterien zu vermeiden (und damit auch unabsehbare Folgen
für die neurologische und psychologische Gesundheit, sowie das Immunsystem).
Ein kleines Fazit
Es gibt also wissenschaftlich gesehen kaum einen Grund, um sich zu einer künstlich erhöhten Ballaststoffzufuhr zu zwingen, wenn man sich nicht wohl damit fühlt. Wir können Ihnen nur empfehlen,
bei diesem Thema auf Ihren Bauch zu hören, auch wenn er manchmal nicht der vertrauenvollste Gesprächspartner zu sein scheint.
Hinterfragen Sie doch beim nächsten Besuch Ihres Ernährungsberaters mal dessen Empfehlungen und fragen gezielt nach, auf welche Untersuchungen oder Erkenntnisse sich dessen Rat
stützt.
Bitte bleiben Sie weiterhin kritisch!
Ihr Reizdarmtherapie- Team