Warum sind einige chronische Erkrankungen scheinbar schwieriger zu ertragen als andere?
"Ganz einfach!", würden die meisten von uns wohl im ersten Augenblick antworten. "Je stärker und beeinträchtigender die Symptome im Alltag sind, desto schlechter ist die Krankheit zu bewältigen
bzw. zu managen. Die individuell empfundene Lebensqualität sinkt."
Das klingt natürlich einleuchtend, hat aber einen entscheidenden Haken: Die wissenschaftliche Erfahrung liefert regelmäßig Gegenbeweise für diese Alltagstheorie. Besonders häufig auch im
Zusammenhang mit dem Reizdarmsyndrom, einer oft marginalisierten Erkrankung, welche für Betroffene aber sehr oft die absolute Hölle ist.
Ungleiche Geschwister: Crohn, Colitis, Reizdarm
Oft werden die genannten Krankheiten als eine Art Geschwistergruppe beschrieben. Dabei wird der Reizdarm regelmäßig als "kleine Schwester" betitelt. Diese Kennzeichnung scheint korrekt, da die
Folgen eines Mb. Crohn oder einer Colitis ulcerosa ungleich schlimmer ausfallen können und auch die Symptome oft stärker ausgeprägt sind.
Dennoch finden sich auch viele Gemeinsamkeiten, denn wir alle leiden unter irgendeiner Form von Durchfällen, Bauchkrämpfen, Blähungen, Abgeschlagenheit, Nahrungsmittelunverträglichkeiten etc.
Außerdem scheint die Pathophysiologie ähnliche Züge aufzuweisen, obwohl diese beim Reizdarm geringer ausgeprägt sind (siehe bspw. subklinische Entzündungen). Das Verständnis zwischen den einzelnen Betroffenen sollte also recht hoch ausgeprägt sein, denn
schließlich kämpfen wir alle mit doch recht ähnlichen Problemen. Leider beobachte ich sehr oft, dass beide Gruppen sich gegenseitig in ihrem Leiden marginalisieren, oder eben ihre Krankheit als
die schlimmere darstellen:
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"Das ist überhaupt nicht zu vergleichen! Reizdarm ist doch keine bedrohlice Erkrankung. Da muss man auch nicht zu größeren Therapien greifen. Einfach etwas weniger Fett essen und ab und an eine Loperamid. Gut ist es in den meisten Fällen. Wie viele deiner Klienten lagen denn schon im Krankenhaus wegen RDS?" (Forenzitat einer Crohn-Betroffenen) Meine Antwort war übrigens: Einige!
- "Ja, im Schub geht es ihnen sicher schlechter. Aber die meisten CEDler lassen sich medikamentös gut einstellen und dann
haben sie auch für mehrere Monate (fast) komplett Ruhe, während wir täglich mit unserem Durchfall und den Schmerzen leben müssen!" (Emailzitat eines RDS-Patienten)
Und auch eine neue Studie zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität untermauerte die Differenzen zwischen beiden Gruppen.
Eine ganz neue Studie zur Lebensqualität mit RDS und CED
Blagden und Kollegen (2015) befragten Reizdarm- und CED-Patienten nach ihren Symptomen und ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die Studie soll hier nur kurz zur Veranschaulichung genutzt werden, ohne dass wir uns den Details widmen wollen.
Zentrales Ergebnis: Obwohl die Symptome der CED-Gruppe im Mittel stärker ausgeprägt waren, berichteten die Betroffenen mit einem Reizdarm eine niedrigere Lebensqualität.
Dies betraf besonders soziale und emotionale Aspekte der Lebensqualität.
Warum fällt RDS-Patienten die Krankheitsbewältigung so schwer?
Hierzu habe ich persönlich zwei Hypothesen, welche sich aus meiner Erfahrung als Psychologe und Coach, welcher mit beiden Patientengruppen arbeitet, generierten:
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Patienten mit CED haben sich sehr oft mit ihrer Diagnose abgefunden. An den medizinischen Befunden und der klinischen Symptomatik gibt es oft nichts herumzudeuten. Diese Akzeptanz der Erkrankung und die Integration in das eigene Selbstkonzept erleichtert den Umgang mit der Erkrankung.
Beim Reizdarmsyndrom ist es oft genau das Gegenteil: Die Patienten sind Suchende. Sie kämpfen noch immer um eine Diagnose, einen Anhaltspunkt - eine Oase in der Wüste. Diese Hoffnung ist nicht
per se schlecht, aber sie blockiert und verstellt leider sehr häufig den Blick auf das Wesentliche: Sein Leben dennoch zu leben und auch lebenswert zu gestalten! Ob man es glauben mag, oder
nicht, aber dies ist auch mit einer Darmerkrankung möglich (bald mehr dazu auf unserem Portal). Viele meiner Klienten und Leser haben eine Alles-Nichts-Mentalität entwickelt: Sie widmen all ihre
Kraft und Energie der Diagnosefindung und Therapieversuchen. Es heißt dann: gesund oder gar nicht. Kleine Verbesserungen werden oft gar nicht mehr registriert. Für CEDler stellt sich diese Frage
nicht, denn sie würde immer zugunsten von "gar nicht" ausfallen, was eigentlich keine Option ist.
Zu den dargestellten Punkten passen auch die Befunde, dass sehr viele RDS-Betroffene bereit wären Lebensjahre zu opfern, um heute beschwerdefrei zu sein. Die Krankheitsfixierung bestimmt die
Wahrnehmung des ganzen Lebens als große Katastrophe!
2. CED-Betroffene gehen meiner Erfahrung nach oft unbefangener mit ihrer Erkrankung um. Spätestens, wenn sie das erste Mal im Krankenhaus waren, haben auch die letzten in der Familie oder auf
Arbeit bemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Bei der Symptomstärke eines Schubes wäre Verbergen wohl auch ein ziemlich schwieriges Unterfangen ... Doch auch das Umfeld begegnet dieser
"gefährlichen" Erkrankung oft mit mehr Verständnis.
Der Reizdarm-Patient ist meist eher bemüht, seine Krankheit zu verstecken, so lange dies möglich ist. Dies verbaut seinem Umfeld aber auch die Möglichkeit, Rücksicht zu nehmen oder den
Betroffenen emotional zu stützen etc. Aber selbst wenn sie den Reizdarm nicht verbergen, kann es den Patienten passieren, dass sie auf Unverständnis stoßen: "Ein Reizdarm ist doch keine
Erkrankung, wegen der man eine Woche zuhause bleiben muss!", oder aber "Jetzt verdirb uns hier mal nicht den Geburtstagsbraten. Früher hast du auch immer mitgegessen und dir ging es
gut!"
Mit anderen Worten, das Stigma Reizdarm, mit all seinen Assoziationen, erschwert den Betroffenen den Umgang mit der Erkrankung.