Mit der Entdeckung der gesundheitlichen Bedeutung unserer Darmbakterien gehen leider auch viele Misskonzeptionen einher. Natürlich bietet die Restaurierung und Modulation unserer Dickdarmflora ein riesiges Feld für große Erwartungen, schließlich wurde mehrfach gezeigt, dass eine veränderte Besiedlung (Dysbiose) u.a. mit Krankheiten wie dem Reizdarmsyndrom, den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Depressionen etc. in enger Verbindung steht. Aber welchen Ratschlägen können wir denn trauen? Wo verläuft der schmale Grad zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Empfehlungen vieler Therapeuten oder gar den wilden Versprechungen der Probiotikahersteller?
Am sinnvollsten ist es wohl, den Menschen genau zuzuhören, welche tagtäglich mit unseren Darmbakterien arbeiten und deren Funktion wenigstens ansatzweise verstehen. Professor Erica Sonnenburg leitet mit ihrem Ehemann Justin das "Sonnenburg Laboratorium" der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie an der Universität Stanford. Ende Juni erscheint ihr wirklich informatives und lesenswertes Buch "Good Gut" endlich auch auf Deutsch. Dies haben wir zum Anlass genommen, um den beiden Koryphäen im Bereich Mikrobiomforschung einige Fragen zum Thema Reizdarm und Darmflora zu stellen.
Kurze Einleitung
In verschiedenen Interviews und Vorträgen fielen mir Erica und Justin Sonnenburg von der Universität Stanford vor allem durch ihre zurückhaltende, angenehme Art zu sprechen und zu erklären auf. Sie benötigen keine übertriebenen Statements, keinen Hype um ihre tollen Qualifikationen o.ä., sie sind zwei Forscher und leben und brennen für ihre Sache. Sehr wichtig war mir dabei auch, dass sie keine zugehörigen Supplemente etc. anbieten, wie es in Amerika so oft der Fall ist. Ganz im Gegenteil: Sie empfehlen oft völlig kostenlose Dinge, welche wir alle ohne Kosten und Mühen in unseren Alltag einbauen können. Außerdem lebt Familie Sonnenburg all diese Dinge selbst: Die Kinder spielen mit und in der Erde, haben einen engen Kontakt zu Tieren, Erica fermentiert zahlreiche Gemüsesorten. Ich bestellte mir ihr Buch (englische Version) und war absolut begeistert (doch dazu später mehr).
Nach der Lektüre interessierten mich natürlich noch einige Dinge im Zusammenhang mit unserer Erkrankung, welche mir Erica Sonnenburg bereitwillig beantwortete.
Liebe Erica! Ihr empfehlt in eurem Buch eine ballaststoffreiche Kost für eine gesunde Darmflora (mindestens 30g/Tag). Viele RDS-Patienten müssen ihre Ballaststoffzufuhr aber dramatisch reduzieren, um ihre Symptome in Schach zu halten. Einige Experten (wie Professor Whorwell) empfehlen dies explizit. Kann diese Strategie langfristig negative Konsequenzen haben?
Das ist eine großartige Frage und wir bekommen sie recht häufig gestellt. Ich glaube, es gibt berechtigte Bedenken, dass eine solche Strategie nicht das weitaus größere Problem adressiert und letztendlich zu schlimmeren Folgen führen könnte. Ich verstehe natürlich auch, dass eine ballaststoffreiche Kost für einen Menschen mit Reizdarmsyndrom nur schwierig, und für einige vielleicht gar nicht, durchzuführen ist. Allerdings ist mir wichtig, dass alle Leute, die das jetzt hier lesen verstehen, dass Ballaststoffe sehr wichtig für unsere allgemeine Gesundheit sind und deshalb keinesfalls vernachlässigt werden sollten. Das Reizdarmsyndrom ist eine sehr komplexe Erkrankung und es gibt deshalb keine "one-size-fits-all"-Lösungen ...
Gibt es einige Tipps und Kniffe, wie wir mehr Ballaststoffe in unseren Alltag mit dem Reizdarmsyndrom integrieren können?
Es gibt zwar noch keine wissenschaftlichen Studien, welche eine Symptomreduktion bei gleichzeitigem Wiederaufbau der Darmflora untersucht hätten, aber eine Möglichkeit wäre es, die Ballaststoffzufuhr erst zu reduzieren und dann schrittweise wieder zu erhöhen. Weiterhin werden Ballaststoffe einiger Lebensmittel (z.B. Getreide und Hülsenfrüchte) schlechter vertragen als andere (bspw. in Obst und Gemüse). Damit sollte man experimentieren. Oberstes Ziel sollte es jedoch sein, wieder mehr Ballaststoffe in der Nahrung zu tolerieren!
(Anmerkung von Reizdarmtherapie.net: Beide Ansätze vertreten wir so in unserem RDS-Leitfaden: Im ersten Schritt werden die fermentierbaren Substrate stark reduziert und nach der Wiedererlangung einer gewissen Darmgesundheit wieder eingeführt. Getreide, Hülsenfrüchte und Stärke werden gemieden.)
Bei uns im deutschsprachigen Raum ist die low-FODMAP-Diät aktuell sehr populär. Einige Studien zeigten bereits negative Auswirkungen auf vorteilhafte Darmbakterien. Ist das Befolgen der Diät über einen längeren Zeitraum unbedenklich?
Ich glaube tatsächlich, dass solche Eliminationsdiäten langfristig bedenklich sind. Bis jetzt haben wir keine Langzeitdaten über diese Diät. Wir wissen lediglich, dass sie kurzfristig Symptome des Reizdarmsyndroms reduzieren kann. Zusätzlich wissen wir aber auch, dass ballaststoff- und präbiotikaarme Kostformen das Risiko für Sterblichkeit stark erhöhen können. In unserem Labor haben wir gezeigt, dass Ballaststoffe der Treibstoff unserer Darmbakterien sind und das vergangene Jahrzehnt präsentierte in überwältigender Weise, wie wichtig eine gesunde bakterielle Population für unsere allgemeine Gesundheit ist.
Aber die Leute sollten nicht glauben, dass sie Unmengen an FODMAPs oder Getreide essen müssten, um ihre Darmflora gesund zu erhalten. Wir studieren einen Jäger-Sammler-Stamm aus Tansania. Die Stammesmitglieder konsumieren 100-150g Ballaststoffe am Tag! Dabei haben sie weder Zugang zu Getreide noch Hülsenfrüchten. Aber sie essen sehr viele Beeren und verschiedenste Gemüsesorten. Wenn man also keine FODMAPs verträgt, dann sollte man die Dinge betonen, welche man tolerieren kann (brauner Reis, Vollkornseudogetreide, FODMAP-armes Gemüse ...)
In Deutschland boomt das Geschäft mit Darmfloraanalysen. Dabei streiten sich Vertreter der Kulturmethode (Medivere, Enterosan, Biovis etc.) mit den Vermarktern von DNA-Tests. Was ist von solchen Analysen zu halten?
Grundsätzlich liefern Kulturmethoden keine sinnvollen Ergebnisse, da die meisten Bakterienarten gar nicht im Labor angezüchtet werden können! DNA-Analysen sind da weitaus informativer und liefern ein komplettes Strukturabbild der Darmflora, ABER es ist nicht so, dass diese Informationen unbedingt verwertbar wären. Wir sind einfach noch nicht an dem Punkt, dass wir sagen könnten, so oder so müsste ein gesundes Mikrobiom aussehen. Der Gedanke, einfach fehlende Stämme zu ersetzen ist zu einfach. Auch wenn jemand eine komplett verschobene Struktur hat, bedeutet dies nicht, dass er krank sein muss. Wir können einfach noch kein klares Statement anhand der Darmflora treffen.
Natürlich kann man die DNA-Tests nutzen, um zu schauen, wie sich die bakterielle Vielfalt bspw. während einer Diät verändert, aber insgesamt bezweifle ich zum jetzigen Zeitpunkt deren informativen Mehrwert für die Patienten, abgesehen von der Parasitologie (Infektionen).
Einige Probiotikahersteller behaupten, dass Bakterien aus fermentierten Lebensmitteln (bspw. probiotischer Joghurt) nicht die Magensäure passieren könnten und nur verkapselte Probiotika zu den beworbenen Effekten führen würden. Ist das korrekt?
Das ist absolut falsch! Es stimmt lediglich, dass ein Teil der lebenden Bakterien diese Passage nicht unbeschadet übersteht. Was aber noch wichtiger ist: Das Immunsystem reagiert nicht nur positiv auf lebende, sondern auch auf tote Mikroorganismen. Ein Hauptvorteil von Probiotika (egal ob verkapselt oder in Lebensmitteln) ist ja der immunomodulatorische Effekt, also eine Reaktion des Immunsystems auf die anwesenden Mikroorganismen. Bis jetzt gibt es keine Studien, ob verkapselte Probiotika andere oder bessere Effekte haben, als fermentierte Lebensmittel.
Du sprichst vom immunomodulatorischen Effekt. Probiotika verbleiben also nicht im Darm und verändern die Darmflora?
Nein, das tun sie nicht. Selbst wenn alle Mikroorganismen eines großen, lang-fermentierten Joghurts den Dickdarm erreichen würden, machten sie nur weit unter 0,01% der dort lebenden Bakterien aus. Aus diesem Grund haben neueste Studien auch gezeigt, dass auch massive Probiotikagaben die bakterielle Mikroflora nicht verändern können. Das bedeutet aber, wie gesagt nicht, dass ihr Konsum überflüssig wäre. Das Immunsystem reagiert auf ihre Anwesenheit und Entzündungen werden gelindert, die Durchlässigkeit der Darmwand reduziert usw.
In Deutschland empfehlen viele Ärzte beim Reizdarmsyndrom probeweise oder gar regelmäßige Behandlungen mit Antibiotika. In den USA wurde Rifaximin nun offiziell zur Behandlung des RDS-D zugelassen. Wie geht es euch Mikrobiomforschern dabei?
Ich denke, dass dies ebenfalls auf die Dichotomie Symptomreduktion vs. Ursachenbekämpfung zurückzuführen ist. Die Verwendung eines Antibiotikums während der Anfangsphase einer Diät oder Therapie kann durchaus Sinn machen. Regelmäßige Gaben, wie bei Rifaximin und der Dünndarmfehlbesiedlung oder RDS vorgesehen, bergen aber erhebliche Gefahren, u.a. Clostridium diff. induzierte Kolitis.
(Anmerkung von Reizdarmtherapie.net: Auch in unserem Leitfaden nutzen wir beginnend pflanzliche Antibiotika, um überproportionale fermentierende Stämme zu reduzieren und ein Gleichgewicht der Darmbakterien zu ermöglichen.)
In Deutschland ist der probiotische Stamm MIMBb75 (in Kijimea Reizdarm) der wohl bekannteste. Auf Intternetseiten wird das Probiotikum mit "dem Durchbruch in der Reizdarmtherapie" beworben. Was ist davon zu halten?
Es gibt tatsächlich Studien, welche die Wirksamkeit verschiedene Bifidobakterienstämme beim Reizdarmsyndrom nahelegen. Allerdings sind diese Studien allesamt recht klein und hatten nur marginal signifikante Effekte. Dennoch denke ich, dass man als RDS-Patient diesen Probiotika eine Chance geben kann. Unter Umständen helfen sie einem bei den wichtigeren Dingen der Darmflorarestaurierung, bspw. mehr Ballaststoffe zu konsumieren. Allerdings: Man sollte immer bedenken, dass auch diese Mittel keine ursächliche Lösung sind. Während sie dem einen helfen können, werden einige andere kaum einen Unterschied bemerken.
Dann zur letzten Frage: Welche drei Tipps würdet ihr als Mikrobiomforscher einem Reizdarmpatienten geben?
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Esst so viele Ballaststoffe, wie ihr tolerieren könnt!
- Sucht nach fermentierten Lebensmitteln oder Probiotika, die euch helfen.
- Kommt mit mehr Mikroorganismen in Kontakt: Gärtnert, geht in die freie Natur, haltet euch Tiere.
Noch nicht genug von den Darmbakterien?
Ericas und Justins Buch gibt einen tiefen Einblick in die Welt dieser faszinierenden kleinen Lebewesen, welche aneinandergereiht tatsächlich bis zum Mond reichen würden! Sie beschreiben den aktuellen Forschungsstand, decken die Zusammenhänge zwischen Darmflora und Gesundheit auf und schaffen dies auch alles in einer sehr leserfreundlichen Art und Weise, ohne dass man das Handbuch Biochemie parat haben muss. Stimmt es, dass bestimmte Bakterienstämme für Fettleibigkeit prädestinieren? Oder dass unsere Darmflora unser psychisches Wohlbefinden entscheidend mitbestimmt?
Vor allem spürt man, dass die beiden Ausnahmeforscher ihr Feld in ihr eigenes Leben integriert haben. Wer also wirklich wissen will, was er von so manchem Werbeversprechen oder einer Aussage seines Arztes zu halten hat, der sollte dieses Buch gelesen haben. Ab dem 20. Juni 2016 ist dann auch die deutsche Version erhältlich.