Liebe Leser, Wissenschaft ist etwas Herrliches! Jeden Tag, wenn ich mich an meine Rechercheroutine setze, freue ich mich schon, welche neuen Erkenntnisse mich wohl erwarten mögen. Dieses Mal passte es wieder wie die buchstäbliche "Faust aufs Auge", denn nach meinem Artikel über die körperlichen Faktoren beim Reizdarmsyndrom (ein Vergleich zu Morbus Crohn und Kolitis ulcerosa) fühlten sich viele Leser in ihrer Meinung bestätigt und teilten mir dieses auch schriftlich mit:
"Diese Daten beweisen doch, dass der Reizdarm eben nichts mit unserem Kopf zu tun hat, Ärzte und Psychologen jahrelang Unrecht hatten"
Doch nichts könnte ferner von der Wahrheit sein. Ein Fakt, den ich in meiner täglichen Arbeit als Psychologe und Heilpraktiker für Psychotherapie aus meiner täglichen Praxis kenne und den auch die medizinische und psychologische Forschung anerkennt.
Warum tendiert die heutige Gesellschaft eigentlich immer zu extremen Standpunkten? Natürlich verstehe ich, dass viele von Ihnen da draußen das Gerede um die eingebildeten Schmerzen und das "einfach-einmal-Zusammenreißen" satt hatten. Doch wenn wir die psychischen Komponenten unserer Krankheit verneinen, dann belügen wir uns selbst und berauben uns effektiver Behandlungsoptionen. Denn egal, was für uns Patienten grundlegender ist: ob Psyche oder Körper, Huhn oder Ei - Psychotherapie, Psychopharmaka, Hypnose und Stressmanagement gehören zu den erfolgreichsten Therapiemethoden bei einem Reizdarmsyndrom, unabhängig vom Vorliegen psychiatrischer Begleitstörungen. Das zeigen zahlreiche Studien und auch Meta-Analysen (bspw. zeigten Li und Kollegen 2014 in einer Meta-Analyse, dass Kognitive Verhaltenstherapie dem klassischen Basissupport und auch medikamentösen Ansätzen beim Reizdarmsyndrom überlegen war).
Wer würde eigentlich auf die verrückte Idee kommen, der Depression ihre psychische Komponente abzusprechen, nur weil wir heute wissen, dass bei ihr auch das Mikrobiom, Entzündungsprozesse und das Immunsystem allgemein eine Rolle spielen? Es gibt gerade für chronische Erkrankungen kaum Beispiele, wo Körper oder Psyche isoliert betroffen sind.
Eine neue Untersuchung eines deutschen Teams um Claassen (Neurologie der Universitätsklinik Essen) zeigt jetzt, wie das Gehirn von Reizdarmpatienten anders auf konditionierte Reize reagiert, als das gesunder Vergleichspersonen.
Unser Kleinhirn, Schmerz und Emotionen
Lange Zeit wurde das Kleinhirn als Steuerzentrum des Gleichgewichts, der Körperhaltung und des motorischen Lernens betrachtet. Doch inzwischen finden wir immer mehr bedeutende Hinweise, dass es auch sensorische, emotionale und kognitive Funktionen erfüllt. So wissen wir etwa, dass eine Dysfunktion des Kleinhirns mit emotionalen und Schmerz-Erkrankungen assoziiert ist, welche sich sehr häufig überschneiden. Auch beim Reizdarmsyndrom (welches in der Mehrzahl der Fälle mit chronischen Schmerzen einhergeht) finden wir eine beträchtliche Anzahl psychiatrischer Besonderheiten. In einigen Untersuchungen litten über 90% der untersuchten Patienten an psychiatrischen Symptomen.
Bei der Verarbeitung von Schmerzreizen spielen verschiedene Mechanismen (motorisch, sensorisch, emotional, kognitiv) eine Rolle, welche allesamt auch durch das Kleinhirn gesteuert werden. Doch die Effekte des Kleinhirns gehen tatsächlich weit über die bloße Verarbeitung der unangenehmen Reize hinaus, denn fMRT-Studien zeigten bereits in der Vergangenheit, dass das Kleinhirn von Schmerzpatienten anders auf so genannte konditionierte Stimuli reagiert. Ein Beispiel aus dem Kontext Reizdarmsyndrom wäre die klassische "Angst vor der Angst" oder auch "Erwartungsangst". Die Betroffenen haben bestimmte Situationen (Busfahrten, Geschäftsessen, Einkaufsbummel etc.) als unangenehm erlebt (bspw. durch Stress oder tatsächlich erlittene Darmsymptome). Eine eigentlich unbedenkliche Situation (Busfahren schadet in der Regel niemandem) wird durch die Kombination mit bspw. Bauchschmerzen zu einem konditionierten Reiz (Wenn Sie jetzt an speichelnde Hunde denken, haben Sie in der Schule gut aufgepasst). Dieser konditionierte Reiz kann in Zukunft dafür sorgen, dass allein die Situation oder sogar der Gedanke (Geschäftsessen!) eine Überreaktion des Kleinhirns provoziert und gar Symptome auslösen kann, obwohl der Bauch eigentlich vorher still war. Dieses Erlebnis wird mir tatsächlich beinahe in jedem Erstgespräch geschildert:
Therapeut: "Können Sie mir spontan Situationen nennen, welche ihre Darmbeschwerden provozieren?"
Klient nach kurzem Nachdenken: "Wenn ich Meetings auf Arbeit, Arzttermine oder ähnliches habe. Manchmal auch vor Dates ... Aber manchmal kommen die Beschwerden auch ohne diese Auslöser."
Am nachgestellten Satz können wir schön sehen, wie die Klienten befürchten in die "Psychoecke" gestellt zu werden. Doch das möchte gar niemand. Es geht einfach darum, bestimmte entstandene Muster zu erkennen, zu verstehen und letztendlich zu durchbrechen. Das ist Kognitive Verhaltenstherapie!
Angst vor Dreiecken und Reizdarmsymptome
In der bereits angesprochenen Studie nutzten die Forscher geometrische Figuren als Reize, welche sie mit viszeralen Schmerzreizen via Barostat (u.a. auch Ballontest auf Hypersensitivität des Darmes) kombinierten. Einige Stimuli standen dabei für erhöhten, andere für nachlassenden Druck.
Tatsächlich fanden sich in der Gruppe der Reizdarm-Betroffenen erhöhte Aktivitätsmuster bestimmter Areale des Kleinhirns gegenüber den gesunden Kontrollpersonen auch bei der singulären Präsentation der konditionierten Reize. Sprich: Dreiecke und Co. konnten entsprechend Angst auslösen oder aber für Entspannung sorgen. Letzteres war sogar deutlicher im fMRT zu beobachten: die Reize, welche mit vermindertem Druck und Schmerz präsentiert worden waren, erzeugten die höchste Kleinhirn-Aktivität und wurden scheinbar als "Sicherheits-Hinweise" interpretiert.
Letzterer Punkt könnte erklären, warum viele Klienten ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten entwickeln und berichten, dass sie in einigen persönlichen "Schutzzonen" (eigene Wohnung, Gartenhaus etc.) oder aber umgekehrt in völlig unbekannten Regionen (Urlaub) symptomfrei oder -ärmer sind (letztere wurden noch nicht mit negativen Reizen aufgeladen und assoziiert).
Die gefunden gesteigerten Aktivitätsmuster des Kleinhirns stimmen im Übrigen mit autonomen, somatomotorischen und kognitiven Angstreaktionen bzw. -antworten überein. So kann eine Überaktivierung des Sympathikus neben zahlreichen klassischen Angstsymptomen (Herzrasen, Schwitzen) auch Durchfälle und andere Darmbeschwerden provozieren.
Die vorliegende Untersuchung beweist erneut, wie bedeutend auch die Psyche, das Nervensystem, das Gehirn für unsere Erkrankung sind. Doch die wichtigste Botschaft lautet:
Die Rückgängigmachung konditionierter Reize zu einem neutralen Stimulus durch beispielsweise Psychotherapie ist durch qualitativ-hochwertige Evidenz gestützt und findet u.a. in den Provokationsmethoden zur Angstdesensibilisierung Anwendung. Die Überreaktion auf entsprechende Stimuli kann also verlernt werden und bedeutende Fortschritte für die Betroffenen des Reizdarmsyndroms bringen, vor allem wenn man diese Strategie mit der körperlichen Seite (Ernährung, antiinflammatorische Supplemente etc.) kombiniert.
Viel Erfolg dabei!