"Mit dieser Ernährungsumstellung geht es mir schlechter als je zuvor!" Gibt es so etwas wie ein Glutenentzugssyndrom?

Obwohl die Thematik nicht annähernd wissenschaftlich untersucht ist, berichten zahllose Menschen nach einer Umstellung auf glutenfreie Kost Symptome, welche an einen Opiatentzug erinnern. Doch was steckt dahinter? Bild: angieconscious via pixelio.de
Obwohl die Thematik nicht annähernd wissenschaftlich untersucht ist, berichten zahllose Menschen nach einer Umstellung auf glutenfreie Kost Symptome, welche an einen Opiatentzug erinnern. Doch was steckt dahinter? Bild: angieconscious via pixelio.de

"Thomas, ich halte das einfach nicht mehr aus! Vielleicht muss ich einfach akzeptieren, dass mein Körper das Gluten eben braucht."

 

Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich den oben stehenden Satz in seinen vielen Varianten schon zu hören bekommen habe. In all seinen sprachlichen und emotionalen Ausprägungen. Wütend, verzweifelt, kraftlos, resigniert, aggressiv.

Viele Betroffene berichten nach der Umstellung auf eine glutenfreie Kost Erstverschlimmerungen oder ganz spezifische neue Symptome, welche sie so nicht erwartet hatten. Schließlich lässt man ja nur einfach ein Lebensmittel weg, und dazu noch ein schädliches, richtig? Aber diese Erfahrungsberichte zeigen uns eben, dass Gluten nicht nur irgendein Protein ist.

 

Da sich sowohl Getreide (wegen des FODMAP-Gehalts und der Amylasetrypsininhibitoren) als auch isoliertes Gluten als problematisch beim Reizdarmsyndrom herausgestellt haben (bspw. Wu & Kollegen, 2017; Zanwar & Kollegen, 2016; Barmeyer & Kollegen, 2017 uvm), unternehmen auch viele meiner Leser einen Versuch mit der glutenfreien Diät. Das finde ich natürlich super, allerdings bereitet sie meistens niemand darauf vor, dass es noch einmal ordentlich schlimmer werden kann, bevor es endlich aufwärts geht.

 

Erfahren Sie hier, was Sie vielleicht in den ersten Tagen und Wochen erwarten kann und warum Sie trotzdem durchhalten sollten.

 


Glutenentzug? Wir sprechen doch hier über keine Droge!

Ach nein? Interessanterweise sind sich da viele kluge Wissenschaftler nicht ganz so schnell einig, wie viele meiner Leser und Klienten. Letztere beiden Gruppen werden meistens nur durch eines überzeugt: Massive Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Durchfall, Depressionen. Um sich der Frage anzunähern, ob es tatsächlich so etwas wie einen Glutenentzug gibt, ist es durchaus lohnenswert sich einige Kommentarspalten zu Büchern wie Wheatbelly oder einige Diskussionen in Zöliakiforen durchzulesen. Dann bekommt man nämlich ein Gespür dafür, dass viele Menschen (aber bei weitem nicht alle!) ein gewaltiges Problem bekommen, wenn sie dem Klebeprotein Gluten von heute auf morgen "Lebe Wohl" sagen. Handelt es sich bei den dort geschilderten Symptomen um einen kollektiven Noceboeffekt, die Auswirkungen neuer, dem Körper bis dahin nicht bekannter, Lebensmittel (Soja, Amaranth, Kokos), oder aber um die inzwischen berühmt-berüchtigte "low-carb-flu" oder gar "die-off"? Nun es handelt sich wohl um keinen dieser Faktoren.

  1. Ein Noceboeffekt setzt voraus, dass die Anwender glauben, eine Therapie würde ihnen Schaden zufügen. Bei dem Beginnen einer glutenfreien Diät ist es meistens genau umgekehrt. Wenn, dann erwarten die Anwender auf jeden Fall Besserungen.
  2. Neue, dem Körper unbekannte Lebensmittel, werden nur von den wenigsten Menschen zu Beginn einer solchen Diät eingesetzt. Im Gegenteil: Viele verlassen sich auf Klassiker wie Reis, Mais, Kartoffeln, Cornflakes, Reiswaffeln und Co. und erleiden trotzdem das gleiche Schicksal.
  3. Die so genannte "Low-Carb-Flu" ist die Reaktion des Körpers auf die erzwungene Umstellung seiner Hauptenergiequelle von Kohlenhydraten auf Fett. Häufig beobachten Anwender ketogener Diäten oder auch der Paleo-Diet diese Umstellung als recht unangenehmen Prozess mit wenig Energie und u.a. Verdauungsproblemen, da der Körper erst entsprechende Enzyme bereitstellen muss. Die Symptome des Glutenverzichts werden aber auch beobachtet, wenn man die Kohlenhydratmenge durch alternative Stärkequellen (Reis, Kartoffel) konstant hält.
  4. Der "Die-Off" bei SCD und GAPS wird mit der Jahrisch-Herxheimer-Reaktion gleichgesetzt. Durch das Aushungern pathogener Keime kommt es angeblich zur Freisetzung von Toxinen und weiterhin zu Durchfall, Fieber usw. Doch durch Glutenverzicht allein wird keine pathogene Kolonie absterben. Weiterhin ist stark umstritten, dass eine Ernährungsintervention ausreichend ist, um ein solches Phänomen zu provozieren.

Doch warum kommt es dann zu diesen recht einheitlichen Symptomen beim konsequenten Glutenverzicht?

 

Ist Gluten etwa doch eine Droge?

Bereits im Jahr 1979 beschrieben Zioudrou und Kollegen in ihrem bahnbrechenden Artikel Opiod Peptides derived from Food Proteins, dass Peptide mit morphinähnlichen Eigenschaften aus Gluten und Kasein isoliert werden können. Morphin ist ein Hauptalkaloid des Opiums und zählt zu den stark wirksamen Opioiden der Stufe 3. Seit dieser Grundlagenforschung gibt es einen Streit darum, ob Gluteomorphine (Gliadorphine des Gluten) und Casomorphine (Opioidpeptid des Milchproteins) Casein) beim Menschen an die zuständigen Opioidrezeptoren anbinden können. Erste Hinweise dafür gibt es aber beispielsweise beim Autismus (Reichelt und Kollegen, 2012) oder auch einigen Fällen der Zöliakie (Pruimboom & Kollegen, 2015).

Der abrupte Verzicht auf Gluten oder auch Casein könnte also unter Umständen in einem kalten Entzug enden. Doch bitte fragen Sie nicht Ihren Hausarzt oder Gastroenterologen um Hilfe, denn der wird Sie im besten Falle nur auslachen. Denn was nicht im Studium gelehrt wird, das darf bekanntlich auch nicht sein.

 

Laut einiger Ärzte mit Erfahrung auf dem Gebiet, darunter die Psychiater Dr. Kelly Brogan und Dr. Charles Parker, wird das Auftreten von Entzugserscheinungen durch verschiedene Faktoren beeinflusst:

  1. Dauer des Glutenkonsums (hohes Lebensalter)
  2. Menge des Glutenkonsums
  3. Verdauungsleistung und Verdauungskrankheiten (wie viel Gluten entgeht der Verdauung und kann als Exorphin an Rezeptoren binden)
  4. Durchlässigkeit der Darmschleimhaut

Eine schlechte Nachricht für uns RDS-Dler? Die letzten beiden Punkte nehmen wir voll und ganz mit. Unsere Verdauungsleistung für Gluten ist mehr als schlecht und zusätzlich macht Gluten unsere Darmschleimhaut permeabel (Vazquez-Roque und Kollegen, 2013).

 

Die typischen Symptome des Glutenentzugs

Hierzu gibt es leider noch keinerlei wissenschaftliche Analyse, so dass ich mich auf meine Erfahrungen mit Klienten, Forenbeiträge und Fallberichte von Ärzten und Therapeuten stütze. Die Reihenfolge spiegelt die Auftretenswahrscheinlichkeit wider.

  1. Emotionale Beschwerden (Angsterleben, depressive Verstimmungen, Nervosität, Gereiztheit, Wutausbrüche, Sorgen, Grübeln, Aggressivität, Weinerlichkeit, Stimmungsschwankungen)
  2. Systemische Beschwerden (Schweißausbrüche, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, niedriger Blutzuckerspiegel, Hautausschläge)
  3. Neurologische Beschwerden (Kopfschmerzen[!!!], brain-fog, Konzentrationsstörungen, Missempfindungen in Händen, Füßen und auf der Kopfhaut, Zahnschmerzen, Händezittern, Schwindel)
  4. Gastrointestinale Beschwerden (Durchfall, Verstopfung, Blähungen, Bauchkrämpfe, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen
  5. Beschwerden am Bewegungsapparat (Muskelkrämpfe, Gelenkschmerzen)

Natürlich treten nicht alle Beschwerden bei jedem Betroffenen und in voller Ausprägung auf. Meistens fühlen sich die Menschen nach der Umstellung auf glutenfreie Kost für 1-2 Tage etwas besser, während am dritten oder vierten glutenfreien Tag die ersten Beschwerden einsetzen. Geben Sie hier nicht Ihrem Drang nach aufgzugeben. Ihr Gehirn wird Sie ein großes Verlangen nach Pasta, Brötchen, Keksen usw. spüren lassen, verstärkt durch das Wissen, dass diese Snacks Ihre Symptome enden lassen würden. Doch denken Sie immer daran: Für unsere Erkrankung ist ein Glutenverzicht absolut sinnvoll und wenn Sie jetzt nicht durchhalten, dann fangen Sie in ein paar Tagen wieder von vorne an. Oder wie wollen Sie sonst herausfinden, ob Sie zu den 34% der Reizdarmpatienten gehören, die ihre Beschwerden durch einen Glutenverzicht komplett befrieden können (Barmeyer & Kollegen, 2017)?

Denken Sie immer daran, dass es sich "nur" um Entzugssymptome handelt und diese sind temporär. Nach 10-14 Tagen ist der Spuk für die allermeisten vorbei bzw. klingen die Symptome in den nächsten Tagen immer weiter ab. Und was danach auf Sie wartet, wird es allemal wert sein!

 

Wie kann ich mir bei Glutenentzugssymptomen helfen?

Fakt ist, dass Sie Ihren eigenen Glutenverzicht allein durchstehen müssen. Vielleicht gehören Sie aber auch zu den Glücklichen, die keinerlei Nebenwirkungen der Umstellung spüren und schnell in den Genuss der Vorteile kommen. Doch auch wenn nicht, ist das kein Beinbruch, denn es gibt einige Strategien, um die Umstellung etwas weniger schmerzhaft zu gestalten.

  1. Nutzen Sie eine stressarme Zeit. Aufgrund der Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen sollten Sie vielleicht weder die Hochsaison auf Arbeit, noch Feiertage mit Besuch der Schwiegereltern wählen. Warnen Sie Ihre Liebsten vor und nutzen Sie verlängerte Wochenende oder einen kurzen Urlaub. Denken Sie aber daran, dass die meisten Beschwerden mit Verzögerung einsetzen.
  2. Schleichen Sie Gluten aus. Ja, es klingt seltsam, aber hat sich bewährt. Wie bei vielen Drogen oder Medikamenten üblich, können Sie die Symptome abmildern, wenn Sie nicht von heute auf morgen abrupt stoppen, sondern erst einmal einzelne Mahlzeiten umgestalten, mehr selber kochen etc. So geht man übrigens auch beim Koffeinentzug vor, um die gefürchteten Kopfschmerzen zu umgehen.
  3. Trinken Sie viel Wasser und nutzen Sie ein gutes Salz. Beim Glutenverzicht geht viel Flüssigkeit verloren. Sie werden dies an häufigen Toilettengängen merken. Ersetzen Sie dieses Wasser und die damit ausgespülten Elektrolyte unbedingt durch Wasser und Meer- oder Steinsalz um der typischen Benommenheit bzw. dem Schwindel vorzubeugen.
  4. Tun Sie etwas für Ihr Wohlbefinden und Ihre Entspannung. Schenken Sie Ihrem Gehirn Gegenreize und tun Sie sich gezielt viel Gutes in den ersten schweren Tagen. Massage, Entspannungstraining, ein gutes Buch, leichte sportliche Betätigung (nicht übertreiben), ein Gläschen Rotwein und vor allem viel Schlaf.
  5. Nutzen Sie Supplemente, um den Körper zu stabilisieren. Laut Dr. William Davis haben sich besonders Magnesium, Omega-3-Fettsäuren, Probiotika (Bifido und Lakto) und Jod bewährt.
  6. Denken Sie immer daran, dass es sich um einen kurzfristigen Umstellungsprozess handelt! In ein paar Tagen und maximal vier Wochen sollte alles vorüber sein. Visualisieren Sie, wie Ihr neues Leben mit weniger oder keinen Darmsymptomen aussehen könnte. Was wollen Sie dann tun? Was bereitet Ihnen Spaß? Der Erfolg ist schon fast greifbar nahe.

 

 

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