Ah, endlich mal wieder ein psychotherapeutisches Thema auf dem Blog von Reizdarmtherapie.net ... Das wurde aber auch wirklich Zeit! Schließlich gibt es fast nichts, das ich so gern kritisiere wie meinen eigenen Berufsstand oder besser gesagt, dessen mitunter überholte Methodik aus den muffigen 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
In der Novemberausgabe des Magazins Naturarzt beschrieb ich die theoretischen Hintergründe, wie eine mikrobiomfreundliche und blutzuckerstabilisierende Kost zu ausgeglicheneren Stimmungslagen führen kann. In meinem Artikel zitierte ich außerdem gleich mehrere Interventionsstudien, die eindrucksvoll demonstrierten, dass allein die Umstellung auf eine solche Ernährungsweise mittelschwere Depressionen innerhalb weniger Wochen signifikant lindern kann. Und ich übte auch heftige Kritik an dem Umstand, dass entgegen der Empfehlungen in zahlreichen psychiatrischen Leitlinien, fast kein Psychotherapeut oder Psychiater die Ernährungsgewohnheiten von Angstpatienten oder Depressionsbetroffenen erfragt und diese gegebenenfalls modifiziert (was in westlichen Industrienationen fast immer notwendig wäre).
Die Rationale hinter diesen beeindruckenden psychotherapeutischen Behandlungserfolgen durch Ernährungsstrategien dürfte dir längst bekannt sein. Blogs, Lifestylemagazine, Tageszeitungen jeglicher Bandbreite haben inzwischen schon einmal darüber berichtet, dass unser gastrointestinales Mikrobiom auch unsere psychische Gesundheit beeinflussen kann. Hierbei nimmt es die zentrale Rolle des Vermittlers zwischen unserem Gehirn und unserem Gastrointestinaltrakt ein. Wenn also dein Gehirn und dein Verdauungssystem Sender und Empfänger sind, dann kannst du dir deine Darmbakterien (aber auch andere Mikroorganismen deiner Darmflora) als Telefonleitung vorstellen. Das Problem ist allerdings deren recht hohe Störempfindlichkeit, denn durch verschiedene Einflussfaktoren (Antibiosen, Nahrungsmittelzusätze, zu viel Zucker, chronischer Stress) kann die Leitung marode werden und dann nur sehr unzuverlässig arbeiten. Wir sprechen in diesen (nicht seltenen) Fällen von einer Störung der Hirn-(Mikrobiom-)Darm-Achse. Letztere ist ein zentraler Krankheitsmechanismus etwa beim Reizdarmsyndrom (Kennedy et al.,2014).
Lange Zeit war uns Menschen nicht bewusst, dass sowohl Gehirn als auch Darm die Wählscheibe betätigen und als Sender fungieren können. Zwar hatten sich die Auswirkungen starker Gefühlswallungen sogar in unserem Sprachgebrauch als geflügelte Wörter manifestiert ("Schiss haben", "Sich vor Angst in die Hosen machen" usw.), da fast jeder schon einmal vor einer Prüfung oder einem ersten Date ein "flaues Gefühl" im Magen hatte, oder eben überraschend zur Toilette musste. Doch das diese Kommunikation auch andersherum funktionieren sollte, war eine beinahe revolutionäre Erkenntnis! Was hätte wohl ein gewisser Neurologe namens Freud gesagt, wenn er erfahren hätte, dass er die Residenz des unbewussten Steuermannes unseres Erlebens und Verhaltens nicht in unserem Gehirn, sondern in unserem Darm hätte finden können?
In jedem Fall wissen wir heute um die gewaltigen Auswirkungen unseres Mikrobioms auf unsere psychische Gesundheit und dass die Dysbiose der Darmflora, also eine ungünstige Zusammensetzung der Mikroorganismen, Verminderung der Artenvielfalt und ein proentzündliches Darmmilieu, mit nahezu allen psychiatrischen Erkrankungen assoziiert ist (Bastianssen et al.,2018; Clapp et al.,2017). Aus diesem Grund entdecken immer mehr Wissenschaftlerteams die Wiederherstellung einer gesunden Darmflora als therapeutische Variable zur Linderung psychischer Erkrankungen oder neuropsychiatrischer Symptome (Meyyappan et al.,2020). So können etwa sowohl Ängste als auch Depressionen mit dem Verfahren der Stuhltransplantation (fecal microbiota transplantation, FMT), also dem Übertragen einer individuellen Darmflora via der Gabe von Stuhl (Fäkalien) mittels einer Endoskopie in den Darm eines anderen Menschen, gelindert und auch übertragen werden.
Depressionen und Ängste geheilt in vier Wochen? Ganz ohne Medikamente oder Psychotherapie?
Immer mehr beeindruckende Experimente, welche an die oben beschriebenen theoretischen und präklinischen Ergebnisse anknüpfen, zeigen heute, dass verschiedenste psychiatrische Erkrankungen auf diese Weise unkompliziert, ohne bedeutende Nebenwirkungen und innerhalb kürzester Zeit stark gelindert oder sogar in die Remission gebracht werden können.
Dies geschah etwa einer Gruppe von Patienten mit leichten und mittelschweren Depressionen und Angsterleben. Die Probanden erhielten per Stuhltransplantation das Darmfloraprofil eines gesunden Spenders, woraufhin sich die Artenvielfalt ihres Mikrobioms stark vermehrte. Das gastrointestinale Ökosystem stabilisierte sich und wies eine geringere Entzündungsneigung auf. Die Patienten verbesserten innerhalb von nur einem Monat ihre Werte auf den Hamilton-Depressions- bzw. Angst-Skalen signifikant. Im Durchschnitt konnten die Probanden nun nicht länger mit einer Depression diagnostiziert werden, während sie gleichzeitig ihre Angstscores halbierten (Kurokawa et al.,2018). Ganz ähnlich vielversprechende Befunde finden wir bei der Behandlung psychiatrischer Störungen mittels Ernährungsumstellungen, Probiotika etc.
Du kannst dir sicherlich vorstellen, was diesen armen Teufeln widerfahren wäre, wenn sie mit ihren ungeklärten psychischen Beschwerden auf der Couch eines Psychoanalytikers oder in den cremefarbenen Schwingstühlen eines Verhaltenstherapeuten gelandet wären. Ihnen hätte ein langer, oft schmerzhafter Prozess der Aufarbeitung vermeintlich oder wirklich erlebter Traumata bevorgestanden, oder aber eine jahrelange arbeitsreiche Desensibilisierung via Konfrontationstherapie. Diese psychotherapeutischen Verfahren gehören auch heute noch zu den am breitesten eingesetzten Behandlungsmethoden bei Angsterkrankungen und Depressionen. Während der Kritik der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie bereits ganze Buchreihen gewidmet wurden, möchte ich hier darauf verweisen, dass auch die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts etablierte Konfrontationstherapie (Systematische Desensibilisierung, Flooding usw.) große Schwächen aufweist. So sind die klassischen Methoden der Verhaltenstherapie bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen nicht effektiver als andere Maßnahmen (generalisierte Angststörung, somatoforme Störungen, Probleme der Emotionskontrolle) oder diesen sogar unterlegen wie bei der Therapie von Persönlichkeitsstörungen (Hofmann et al.,2012). Zusätzlich bewegen sich die ermittelten Responderraten, selbst für die "Vorzeigeerkrankungen" der Desensibilisierung wie Kindheitsängste, eher im mittleren Bereich (um die 50% - etwa jeder zweite Betroffene profitiert also nicht signifikant von diesen Anwendungen).
Von speichelnden Hunden und der Angst vor Glockenläuten
Die Konfrontationstherapie besagt einfach ausgedrückt, dass viele unserer Ängste erlernt wurden und sich später durch daran angepasstes Erleben und Verhalten verstärkten. Wenn man dieser Erzählung Glauben schenken mag, dann ist es nur logisch, dass wir diese Ängste auch wieder verlernen könn(t)en. Als wissenschaftlicher Kontext wird häufig auf Versuche rund um das Klassische Konditionieren verwiesen. Vielleicht erinnerst du dich in diesem Zusammenhang noch an die Pawlowschen Hunde aus dem Biologieunterricht? Wenn nicht, gebe ich dir hier die Kurzversion: Hunde erhielten einen unbedingten Stimulus (Futter) und zeigten dabei eine angeborene unbedingte Reaktion (vermehrter Speichelfluss). Später kombinierte man die Fütterung mit einem Glockenton (neutraler Stimulus, der im Normalfall keine körperliche Reaktion auslöst). Präsentierte man beide Reize oft genug parallel, wurde der einst neutrale Reiz Glockenton zu einem bedingten Reiz, denn er konnte bald allein (ohne Gabe von Futter) den Speichelfluss (bedingte Reaktion) provozieren. In gleicher Weise konnte diese Reaktionskette den Hunden wieder abtrainiert werden.
Auch wenn es etwas schlicht klingt, die Beobachtungen an speichelnden Hunden auf die komplexe Welt des Erlebens und Verhaltens des Menschen zu übertragen, so bildeten diese doch die Grundlagen für die Lerntheorien und die daraus resultierende Verhaltenstherapie. Haben Soziophobiker (Soziale Phobie ist die Angst vor sozialen Situationen, dem Zentrum der Aufmerksamkeit und die Sorge sich peinlich oder beschämend zu verhalten) also Angst vor dem Telefonieren oder dem Gespräch mit dem Verkäufer, verlangt die Konfrontationstherapie von ihnen eben genau diese Situationen immer wieder zu suchen, durchzuhalten und neu zu bewerten, bis das Gehirn verlernt (besser: verlernen möge), dass es sich um potentielle Bedrohungen handelt.
Jeder der sich selbst schon einmal so einer Therapie gestellt hat oder mit betroffenen Klienten arbeiten durfte, weiß wie kräftezehrend und langwierig dieser Prozess ist. Selbst kleinste Fortschritte müssen mühselig erarbeitet werden und noch viel schlimmer: Werden diese nicht durch dauerhaftes Üben gefestigt, dann muss der Patient häufig zurück auf Los und startet nicht selten bei Null. Natürlich hat dabei die jeweilige Erkrankung einen großen Einfluss auf die Effektivität der Methode (so funktioniert diese bei tatsächlich "erlernten" Ängsten, etwa der Angst vor dem Fahren nach einem schweren Autounfall besser, während viele hochkomplexe Ängste wie eben die Soziale Phobie oder Generalisierte Angststörung weitestgehend unbeeindruckt zu bleiben scheinen).
Schließlich musste ich bei vielen meiner Klienten beobachten, dass die systematische Desensibilisierung oder auch das Flooding (maximale Konfrontationsreize statt gradueller Steigerung) überhaupt keinen positiven Effekt hatten. Heute möchte ich dir deshalb eine interessante aktuelle Studie vorstellen, die belegt, warum dies auch bei dir der Fall sein könnte! Schließlich sind über 90% der Menschen mit einem Reizdarmsyndrom zusätzlich von einer psychiatrischen Störung betroffen (Whitehead et al.,2002). Nicht wenige von uns befanden sich aus diesem Grund in psychotherapeutischer Behandlung.
Mit wachsender Recherche über das vergangene Jahrzehnt seit der Beendigung meines Studiums komme ich immer mehr dahin, meinen Patienten mit psychischen Beschwerden als erstes einen Blick in ihren Kühlschrank zu empfehlen oder an ihrem Schlafverhalten zu arbeiten, bevor ich in die psychotherapeutische Trickkiste greife. Wie bereits oben demonstriert, führt dies oft schneller und unkomplizierter zu einer nachhaltigen Linderung. Die im Anschluss vorgestellten Studienergebnisse fügen einen weiteren Puzzlestein zur Antwort auf die Frage, warum das so ist, hinzu.
Antibiotika speichern Ängste dauerhaft ab und verhindern ihr Verlernen via Dekonditionierung
Wenn Wissenschaftlern langweilig wird, dann fällt ihnen oft nichts heimtückischeres ein, als hilflosen kleinen Nagern Ängste und Alpträume zu verpassen. Und NEIN, ich möchte jetzt hier keine Diskussion über das Für und Wider von Tierversuchen starten!
Im Jahr 2019 publizierte eine Forschergruppe aus Stanford in einer der renommiertesten Fachzeitschriften überhaupt, Nature, die Ergebnisse einer solchen Langeweile (Chu et al.,2019). In Anlehnung an das oben beschriebene Klassische Konditionieren induzierten die Wissenschaftler ihren Labormäusen eine konditionierte Furchtreaktion, so wie dies schon tausendfach in Laboren auf der ganzen Welt beschrieben wurde: Die Nager wurden in eine "Konditionierungskammer" gesperrt. Zusammen mit einem spezifischen Ton erhielten sie wiederholt einen elektrischen Schlag. Diese Prozedur wurde über mehrere Tage wiederholt.
Es dauerte nicht lange und die Mäuse reagierten auf den nun allein präsentierten Ton, indem sie in eine Schockstarre verfielen. (Wer könnte ihnen das verübeln?) Nach einiger Zeit erfolgte die Dekonditionierung der erlernten Angst durch den Besuch einer "Dekonditionierungskammer", in welcher regelmäßig der Ton, nun aber ohne Elektroschock dargeboten wurde. Innerhalb weniger Tage verlernten die Mäuse die Angst vor dem Klang. So weit, so vorhersehbar. Ist die Psychologie nicht ein spannendes Feld? Aber warte noch einen Augenblick ab!
Neben "normalen" Mäusen als Kontrollgruppe wurde der Versuch auch mit Versuchsmäusen durchgeführt, welche zuvor eine Antibiotikakur erhalten hatten. Ihr Mikrobiom unterschied sich maßgeblich von jenem der Kontrollnager. Obwohl sich das Vorgehen hinsichtlich aller Details kein bisschen voneinander unterschied, verlernten die Antibiotikamäuse ihre Furcht vor dem Ton deutlich schlechter als die Kontrollgruppe!
Während die Forscher zuerst an den Vagusnerv als vermittelnde Variable dachten, zeigte ein Versuch mittels Vagotomie keine Verbesserungen des Löschens der Ängste. Auch die Rekolonisation mit probiotischen Bakteriengattungen konnte keine Erfolge verbuchen.
Die Wissenschaftler schlossen, dass am ehesten die Metaboliten der Mikroorganismen das Verlernen der Ängste beeinflussen könnten und dass eine möglichst artenreiche Darmflora vonnöten sei, um das physiologische Verlernen der Ängste zu reinstallieren. Über die Bedeutung der so genannten Biodiversität als wichtigste Variable der Darmgesundheit haben wir hier auf dem Blog schon oft diskutiert.
Besonders therapeutische Maßnahmen wie die Spezielle Kohlenhydratdiät (SCD), GAPS oder auch die verschiedenen Paleoprotokolle zeigten in Studien ihre Effektivität bei der Wiederherstellung einer hohen Biodiversität (Barone et al.,2019). Da sowohl bei chronischen Darmerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom (Chong et al.,2019), aber auch sämtlichen psychiatrischen Störungen (Limbana et al.,2020) die Artenvielfalt des Mikrobioms mitunter dramatisch herabgesetzt ist, verwundert es im Lichte der oben geschilderten Sachverhalte nicht, dass viele von uns mit den althergebrachten Methoden der klassischen Psychotherapie scheitern.
Ein besserer Weg scheint zumindest die Einbeziehung einer komplexen Ernährungsumstellung bzw. der Beeinflussung verschiedener Faktoren des Lebensstils, welche ebenfalls nachhaltig die Darmflora beeinflussen (Schlaf, Training, Stressmanagement, Kälte, Kontakt zur Natur), in eine laufende Psychotherapie zu sein. Ohne diese Arbeit auch an den biologischen Faktoren scheint der Erfolg der Psychotherapie in weite Ferne zu rücken. Viele von uns können davon leider ein trauriges Liedchen singen.
Hier also noch ein paar hilfreiche Ressourcen, welche dir die Therapie deiner psychischen Beschwerden erheblich erleichtern können. Die DNA-Sequenzierung deines Mikrobioms kann dir Aufschluss darüber geben, ob deine mikrobielle Biodiversität bedenklich herabgesetzt ist und ob sich der Einsatz ernährungstherapeutischer Konzepte lohnen könnte und zwar BEVOR du eine Psychotherapie beginnst. Ist dies der Fall, dann bieten die unten verlinkten Diätstrategien nachweislich die größten Erfolge bei der Darmsanierung.
Lass uns gemeinsam die Welt verändern!
Dir hat dieser Artikel richtig gut gefallen? Du fandest ihn gut recherchiert, lesenswert oder im besten Fall sogar hilfreich für den weiteren Umgang mit deinen Bauchbeschwerden? Dann würde ich mich freuen, wenn du andere Betroffene oder deren Angehörige auf ihn aufmerksam machen könntest, oder ihn in den Sozialen Netzwerken teils, damit auch andere Notleidende von seinen Inhalten profitieren können. Nur gemeinsam sind wir stark und schließlich ist Wissen Macht (über unsere Darmerkrankung)!