Liebe Leserin, lieber Leser und liebe Mitstreiter gegen die Plagen der Zivilisationserkrankungen! Heute wird es wieder einmal Zeit, um einen kleinen Rückblick in die wechselvolle Historie des Reizdarmsyndroms zu werfen und einige theoretische und vor allem auch therapeutische Updates vorzunehmen.
Als ich mit Anfang Zwanzig (aber auch zum damaligen Zeitpunkt schon knapp fünf Jahre gequält von täglichen Durchfällen, Bauchschmerzen und massiver Erschöpfung) nach einer kräftezehrenden und erfolglosen Ärzteodyssee buchstäblich kurz vor der Verzweiflung und der Selbstaufgabe stand, begann ich auf eigene Faust in englischsprachigen Foren und wissenschaftlichen Datenbanken über die Behandlung des Reizdarms zu recherchieren. Die vielen Nächte, welche ich mir damals mit Unmengen an Fachliteratur um die Ohren schlug, gaben mir neue Hoffnung und brannten mir eine zentrale Erkenntnis in meine Gehirnwindungen ein:
Die revolutionären Erkenntnisse und Hypothesen zur Pathogenese und vor allem auch Therapie des Reizdarmsyndroms, welche in vielen Studien aus Japan, den USA oder China produziert worden waren, hatten niemals ihren Weg zu meinen Hausärzten und Gastroenterologen (und ich war bereits damals bei verschiedenen Medizinern, auch so genannten "Experten" in Behandlung) gefunden. Zwischen wissenschaftlicher Theorie und ärztlicher Praxis klaffte eine schier gewaltige Lücke (der Grand Canyon trifft es wohl eher!) und diese besteht auch noch heute.
Eines der ersten für mich revolutionären Konzepte, auf das ich im Zusammenhang mit dem Reizdarmsyndrom stieß, war die bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung (meist wenig trennscharf als DDFB abgekürzt; heute unterscheiden wir aber noch bakterielle Formen der Dünndarmfehlbesiedlung von Hefepilzüberwucherungen und anderen Subtypen, so dass man das hier besprochene Konzept korrekterweise im Deutschen mit b[akterielle]DDFB abkürzen müsste). Erste Hinweise auf die Möglichkeit einer bakteriellen Überwucherung des sonst eher (im Gegensatz zum Mikrobiom des Dickdarms) spärlich mit Bakterien und anderen Mikroorganismen besiedelten Dünndarms finden wir bereits in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (bspw. Donaldson, 1970). Bereits damals wurde der englische Terminus Small Intestinal Bacterial Overgrowth (Syndrome) geprägt mit dem im Vergleich zum Deutschen korrekte(re)n Akronym SIBO.
Verstärkt ab der Jahrtausendwende ergründeten die Forscher dann den starken Zusammenhang zwischen der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung und dem Reizdarmsyndrom, aber auch anderen gastrointestinalen Erkrankungen und zeigten immer wieder, dass eine Behandlung der Fehlbesiedlung des Dünndarms zur Linderung oder sogar Remission (Heilung) der Reizdarmbeschwerden führte (s. Logan & Beaulne, 2002; O´Leary & Quigley,2003; Pimentel et al.,2003; Pimentel et al.,2003). Einer der hier aufgeführten Leitautoren, Professor Dr. Mark Pimentel, wird uns in diesem Artikel immer wieder begegnen, da er die Erforschung der nicht immer einfachen Zusammenhänge zwischen Reizdarm und bakterieller Dünndarmfehlbesiedlung zu seinem wissenschaftlichen Schwerpunkt gemacht und dadurch die Diskussion um die diagnostische und therapeutische Praxis des Reizdarmsyndroms immer wieder befruchtet hat (und dies, wie wir gleich sehen werden, noch heute tut).
Im Jahr 2005 fasste Dr. Pimentel, der am Cedars Sinai Medical Centre, einem multidisziplinären akademischen Zentrum in Los Angeles, lehrt und forscht, seine bei der Behandlung unzähliger Reizdarmpatienten gewonnen Erkenntnisse in seinem noch heute sehr lesenswerten Buch "A new IBS-solution: Bacteria - the missing link in treating Irritable Bowel Syndrome" zusammen (leider nur auf Englisch und Spanisch verfügbar).
Die zentrale Hypothese des Buches lautet, dass das Reizdarmsyndrom zumeist eine Folge infektiöser gastrointestinaler Ereignisse (Magen-Darm-Grippe, Lebensmittelvergiftung, Reisedurchfälle) sei, welche sich durch Immunaktivierung, Motilitätsveränderungen und Störungen der Darmbarriere langfristig etablieren würden. In ihrem Verbund begünstigten diese Faktoren die Entstehung einer bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung, welche sich bei bis zu vier von fünf Patienten mit einem Reizdarmsyndrom nachweisen ließe.
Einen wahren "Wirbelsturm" unter den Patienten mit einem Reizdarmsyndrom löste das Buch nicht nur deshalb aus, weil diese wissenschaftlichen Befunde vehement der damals von vielen Ärzten vertretenen Meinung einer weitgehend psychogenen Erkrankung widersprachen, sondern auch, weil mit Pimentels Hypothese erstmals ursächliche Behandlungsmethoden des Reizdarmsyndroms in Aussicht gestellt wurden, welche sich in ersten Studien bereits als sehr effektiv erwiesen hatten! Was für ein Aufschrei herrschte damals in der verzweifelten, ständig nach möglichen Lösungen suchenden Betroffenengemeinde ...
Diese Ereignisse liegen nun bereits fünfzehn lange Jahre zurück. Das Wissen um die Dünndarmfehlbesiedlung im Rahmen des Reizdarmsyndroms ist langsam aber sicher auch in die deutschsprachigen Arztzimmer eingesickert, so dass viele Reizdarm-Patienten heute in einem gastroenterologischen Zentrum bezüglich einer DDFB untersucht werden (auch wenn das methodische Vorgehen der Ärzte oft nicht sauber ist! - siehe Diagnostik der Dünndarmfehlbesiedlung). Leider muss ich feststellen, dass die positive Aufregung, die einst um die Dünndarmfehlbesiedlung kreiste, heute weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Mag es an den Schwierigkeiten bei der Diagnostik, dem Streit um die richtige Therapie oder aber an den oft nach einigen Monaten wiederkehrenden Überwucherungen des Dünndarms liegen. Festzuhalten ist, dass das Konzept SIBO und seine Behandlung gemeinsam mit der Stuhltransplantation (FMT) eines jener unverzichtbaren Verfahren bei einem Reizdarm ist, welches noch über Monate nach seiner eigentlichen Intervention Symptomverbesserungen oder sogar Remissionen erzielt!
Damit du aber eben in den Genuss einer sauber gestellten Diagnose kommst und deine Reizdarmbeschwerden danach effektiv und langfristig therapieren kannst, beschäftigen wir uns im heutigen Artikel mit jenen Erkenntnissen, welche die Forscher in der verstrichenen Zeit seit dem Erscheinen von Dr. Pimentels Meisterwerk ans Tageslicht befördert haben. Wir werden den häufig gestellten Fragen nachgehen, welcher Atemgastest für dich geeignet ist, welche Symptome auf eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung hinweisen, welche Ernährung während der antimikrobiellen Therapie sinnvoll ist und auch welche Alternativen zu einer Antibiose mit bspw. Rifaximin bestehen.
Bei der Beantwortung dieser Fragen orientiere ich mich an einer brandaktuellen Übersichtsarbeit des oben bereits viel gelobten Dr. Mark Pimentel (Takakura & Pimentel,2020). Ich glaube aufgrund seiner enormen Verdienste behaupten zu können, dass es sich bei Dr. Pimentel um einen der kenntnisreichsten Experten auf dem Gebiet der Dünndarmfehlbesiedlung und der zugehörigen Reizdarmhypothese handelt - und zwar sowohl auf dem Feld der Theorie als auch bei der Behandlung tatsächlich Betroffener. Letzterer Punkt unterscheidet ihn maßgeblich von vielen selbsternannten "Experten".
Folgt mir also auch heute wieder in eine spannende Abhandlung mit der Option auf Linderung eures Reizdarms!
Inhaltsverzeichnis: Was du in diesem Artikel lernen wirst.
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Was eine Dünndarmfehlbesiedlung ist.
- Warum die gängige Definition vielleicht bald überarbeitet werden muss und die Art der Bakterien vielleicht wichtiger ist als die bloße Masse der Mikroorganismen.
- Welche Symptome die bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung hervorrufen kann.
- Wie häufig die Dünndarmfehlbesiedlung beim Reizdarmsyndrom zu finden ist.
- Welche weiteren Erkrankungen mit der DDFB assoziiert sind.
- Welche Risikofaktoren die Entstehung einer Dünndarmfehlbesiedlung begünstigen.
- Der Unterschied zwischen Dünndarmfehlbesiedlung und Intestinaler Methanogen Überwucherung.
- Wie SIBO die menschliche Psyche beeinflusst.
Die Dünndarmfehlbesiedlung: Was ist das eigentlich?
Für den Laien kurz zusammengefasst, lässt sich dieses ursprüngliche Konzept der Dünndarmfehlbesiedlung auf seine Kernfaktoren reduzieren, wobei auch hier der englische Terminus Small Intestinal Bacterial Overgrowth deutlich prägnanter gewählt ist. Wir sprechen nämlich zum einen über Bakterien und nicht über andere Mikroorganismen (welche eigene Krankheitsbilder hervorrufen können - siehe etwa Small Intestinal Fungal Overgrowth oder im Bereich der Naturheilkunde schlicht und ergreifend Candidose) und zum anderen von einer Überwucherung des Dünndarms, also einem Zuviel dieser Mikroorganismen für einen bestimmten Teil des Gastrointestinaltrakts.
Heute wissen wir, wie wichtig und gewaltig unser menschliches Mikrobiom ist. Die Anzahl mikrobieller Zellen jener Mikroorganismen, die uns Menschen als Wirt nutzen, überschreitet sogar jene unserer eigenen humanen! Wir sind also lediglich eine Art mikrobieller Organismus mit menschlichem Anhang ... eine weitere Kränkung der "Krone der Schöpfung"! Die Auswirkungen des Mikrobioms auf Gesundheit und Krankheit, von denen die Forscher bisher nur einen Bruchteil ans Tageslicht gebracht haben, sind so enorm und beeindruckend, dass einige Wissenschaftler in diesem Zusammenhang von der Entdeckung eines weiteren menschlichen Organs schwärmen.
Die größte mikrobielle Last trägt dabei unser Dickdarm. Hier gehen die Darmbakterien ihrer Arbeit nach, zerlegen unverdauliche Kohlenhydrate ("microbiota accessible carbohydrates - MACs") und produzieren bei deren Verstoffwechslung für unsere (nicht nur) gastrointestinale Gesundheit wichtige Fettsäuren. Hierdurch gestalten sie unser Darmmilieu aktiv mit, indem sie auf Entzündungsprozesse einwirken, die Darmbarriere regulieren, die Kommunikation mit dem Gehirn modulieren usw.
Im Gegensatz zum dicht besiedelten Dickdarm ist der menschliche Dünndarm eher spärlich mit Mikroorganismen bewohnt. Das ist natürlich sinnvoll, denn zum einen weist er eine größere Nähe zum lebensfeindlichen sauren Milieu des Magens auf (Nahrung zerlegen, Erreger abtöten). Auf der anderen Seite geschehen im Dünndarm für uns wichtige Resorptions- und Absorptionsprozesse. Ein Zuviel an Mikroorganismen in unserem Dünndarm würde dann mit unserem eigenen Organismus um essentielle Nährstoffe (Vitamine, Wasser, Glukose) konkurrieren und Unordnung in zahlreiche Prozesse wie etwa den Gallensäurenkreislauf bringen!
Aus diesem Grund ist der Dünndarm durch eine nur einseitig zu öffnende Klappe, die Ileozäkalklappe, vom Dickdarm getrennt und verschiedene Mechanismen helfen dabei, eventuell aufsteigende Mikroorganismen zurück in den Dickdarm zu drängen (dazu später mehr). Trotz dieser Schutzmaßnahmen kann es aber dazu kommen, dass sich Bakterien aus dem Dickdarm in den Dünndarm vorkämpfen und sich dort eine neue Heimat suchen. Aufgrund des Überangebotes an noch nicht absorbierten Nährstoffen fühlen sie sich dort auch pudelwohl und gedeihen prächtig. Eine Dünndarmfehlbesiedlung ist entstanden!
Durch diesen für den menschlichen Darmtrakt ungewollten Zustand entstehen wie oben bereits angedeutet mehrere Probleme: Zu den wichtigsten gehören die vermehrte Freisetzung proentzündlicher Botenstoffe, eine durchlässigere Darmbarriere (im Volksmund Leaky Gut Syndrom) und die dadurch entstehende bakterielle und endotoxische Translokation (Mikroorganismen, Proteine und Endotoxine gelangen ins System) und eine dauerhafte Immunaktivierung (in Reaktion auf die Fremdstoffe im Organismus). Eine Vielzahl der systemischen und darmbezogenen Symptome erklärt sich aus diesen pathophysiologischen Veränderungen.
Ein schwerwiegendes Problem mit der gängigen Definition: Überwucherung oder Dysbiose?
Die individuelle physiologische mikrobielle Besiedlung des Dünndarms unterliegt mitunter Schwankungen und ist von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Hierzu gehören besonders die Motilität, die Integrität der Darmschleimhaut und die Magensekretion. Jede Störung dieser Hauptregulatoren stellt demzufolge einen bedeutenden Risikofaktor für die Entstehung einer Dünndarmfehlbesiedlung dar. Aufgrund der individuellen Schwankungen der Kolonisation müssen wir uns allerdings fragen, ob die Schwelle zur Diagnosestellung (10³ CFU/ml) trennscharf und gerechtfertigt ist. Schließlich verhält es sich mit der Dünndarmfehlbesiedlung genau so, wie auch bei den verschiedenen Kohlenhydratmalabsorptionen: Nicht jeder positive Atemgastest bedeutet gleichzeitig, dass diese Personen auch die typischen Symptome verspürt! So wissen wir etwa, dass aufgrund von Atemgastests zirka 30% der allgemeinen Bevölkerung so genannte Fruchtzucker-Malabsorber sind, also bereits moderate Mengen Fruktose nicht ausreichend resorbieren können. Doch nur ein weiteres Drittel eben dieser Malabsorber klagt auch über die zugehörigen Beschwerden wie Bauchschmerzen und Durchfälle, nachdem der im Dünndarm nicht ausreichend resorbierte Fruchtzucker im Dickdarm angekommen ist und dort durch Darmbakterien fermentiert wurde. Um also von einer Fruchtzuckerunverträglichkeit zu sprechen, muss zur technisch ermittelten Malabsorption eine weitere Variable treten, vermutlich ein bereits ungünstig verändertes Mikrobiom (siehe etwa Gibson et al.,2006). Auch bei der Dünndarmfehlbesiedlung finden wir eine ganze Menge asymptomatischer Betroffener, also jene Personen, welche zwar laut einem positiven Atemgastest oder einer Bakterienkultur eine Dünndarmfehlbesiedlung diagnostiziert bekommen würden, aber keinerlei der für SIBO typischen Beschwerden zeigen (Bures et al.,2010). Doch wie ist das möglich?
Inzwischen haben einige Studien eine einleuchtende Antworthypothese auf diese Frage formuliert, denn interessanterweise zeigten symptomatische Personen mit einer Dünndarmfehlbesiedlung (also jene mit bspw. Durchfällen, Bauchschmerzen, Fettstühlen und Vitamin-/Mineralstoffmängeln) gegenüber asymptomatischen Betroffenen eine ungünstig veränderte Zusammensetzung des Dünndarmmikrobioms (z.Bsp. Saffouri et al.,2019). Doch damit nicht genug! Über verschiedene Untersuchungen hinweg ließ sich ein spezifischer mikrobieller "DNA-Fingerabdruck" für die symptomatische Dünndarmfehlbesiedlung extrahieren. Bestimmte bakterielle Spezies wurden dadurch zu Hauptverdächtigen beim Tatbestand Dünndarmfehlbesiedlung erhoben. Das Auswuchern bestimmter Mikroorganismen korreliert deutlich besser mit den Beschwerden der geplagten Betroffenen als die schiere Masse der Bakterien im Dünndarm! Dieser Befund hat erhebliche Auswirkungen auf die Diagnostik und auf die Therapie der Dünndarmfehlbesiedlung und stellt außerdem die heute gängige Definition infrage.
Zwei bakterielle Spezies, welche immer wieder stark vermehrt in den Dünndarm-Aspiraten von Betroffenen einer DDFB auftauchten, welche auch tatsächlich Reizdarmbeschwerden provozierte, waren Klebsiella und Escherichia (eine Auswahl: Ghoshal et al.,2014; Leite et al.,2020; Pyleris et al.,2012). In der nordamerikanischen Untersuchung von Leite und Kollegen war das Ausmaß von Klebsiellen und Escherichia-Bakterien bei den Betroffenen der Dünndarmfehlbesiedlung sogar um den Faktor sieben bis acht gesteigert! Diese Befunde geben auch den Arbeiten von Prof. Alan Ebringer, der schon früh eine Verbindung zwischen Klebsiellen und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen etablierte (Ja, auch der Reizdarm gehört heute für die meisten Forscher zu dieser Kategorie!), den verdienten neuen Auftrieb (vgl. Ebringer et al.,2006).
Es ist besonders wichtig, dass du dir diesen Punkt unserer Abhandlung gut einprägst: Die klassische Definition der Dünndarmfehlbesiedlung muss als zumindest teilweise überholt angesehen werden. Wir werden nämlich bei der Diskussion sowohl der richtigen Diagnosestellung als auch der zielgerichteten Therapie darauf zurückkommen! Deshalb noch ein letztes Mal zum Einprägen:
Die Komposition des Dünndarmmikrobioms ist ein entscheidenderer Faktor als die Menge der Mikroorganismen. Oder anders ausgedrückt: Bei der Dünndarmfehlbesiedlung schlägt die Qualität die Quantität. Während also für die veraltete Definition der englische Begriff des Overgrowth (der Überwucherung) akkurater war, trifft der deutsche Terminus der Fehlbesiedlung nach dieser überraschenden wissenschaftlichen Wende eher den Kern und kann somit als weitestgehend rehabilitiert angesehen werden.
Eine persönliche Randnotiz
Dem soeben angesprochenen Dr. Ebringer verdanke ich einen großen Teil meiner heutigen Gesundheit, denn er inspirierte mich damals, sehr viel Geld zu investieren und Aufwand zu betreiben, um vor bereits mehr als fünfzehn Jahren eine damals noch sehr rare private DNA-Sequenzierung des Darmmikrobioms durchführen zu lassen. Zu dieser Zeit musste ich meine Stuhlproben noch mittels eines speziellen Testkits und mitsamt Arzt- und Zollbescheinigungen in die USA schicken! Doch siehe da: Es fand sich bei mir genau jene Klebsiellenüberwucherung, die ich mithilfe der Ernährungsempfehlungen Dr. Ebringers erfolgreich therapierte. Dadurch gelang mir mein erster Durchbruch bei der Behandlung meiner ausgeprägten Beschwerden. Damals konnte ich natürlich noch nicht ahnen, dass die DNA-Analytik auch im Rahmen der Diagnosestellung der Dünndarmfehlbesiedlung einmal eine tragende Rolle spielen und einmal kostengünstig und unproblematisch in Deutschland verfügbar sein würde (mehr zu diesem Thema unter dem Punkt Diagnostik).
Welche Symptome kann eine Dünndarmfehlbesiedlung hervorrufen?
Gängige gastrointestinale Symptome einer Dünndarmfehlbesiedlung
Symptome der Dünndarmfehlbesiedlung (über 66% der Betroffenen) |
Komplikationen der Dünndarmfehlbesiedlung (nur ein geringerer Teil der Betroffenen) |
Bauchschmerzen | Gewichtsverlust |
Aufstoßen | Fettstühle |
Sodbrennen | Mangel an fettlöslichen Vitaminen (A,E,D,K) |
Blähungen | Vitamin-B12-Mangel |
Durchfall |
Eisen-Mangel |
Verstopfung | Überschuss an Folsäure |
breiiger Stuhl | Hypoproteinämie |
Durchfall und Verstopfung im Wechsel |
Kohlenhydratmalabsorptionen
|
heftiger Stuhldrang | Fettunverträglichkeit via Gallensäuren-Dekonjugation |
Flatulenz | |
Unwohlsein | |
Übelkeit | |
unvollständige Verdauung | |
flauer Magen | |
(siehe bspw. Dukowicz et al.,2007) |
Wie häufig finden wir eine Dünndarmfehlbesiedlung beim Reizdarmsyndrom und wo liegt der Zusammenhang?
An diesem Punkt sollte sich jeder gut mitdenkende Leser die Frage stellen, was genau diesen starken Zusammenhang zwischen dem Reizdarmsyndrom und der Dünndarmfehlbesiedlung vermittelt. Begünstigen vielleicht einige Faktoren des Reizdarmsyndroms (veränderte Motilität, diätetische Modifikationen etc.) die Entstehung einer DDFB? Die geballte Evidenz aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen legt einen gänzlich anderen Schluss nahe: Die Dünndarmfehlbesiedlung scheint (ganz nach der Hypothese Dr. Pimentels) die eigentliche Ursache hinter dem "Reizdarm" zu sein. So zeigten Wissenschaftler bspw. in einer Proof-of-Concept-Untersuchung, dass Patienten mit einem Reizdarmsyndrom durch Antibiose, nicht aber durch Plazebo, ihre Dünndarmfehlbesiedlung eliminieren konnten. Diese Elimination von SIBO ging mit einer starken Verbesserung der Reizdarmsymptome einher. Das beeindruckendste Ergebnis war aber, dass 25% der mittels Antibiose von ihrer Dünndarmfehlbesiedlung befreiten Reizdarmpatienten auch sechs Monate später nicht die ROM-Kriterien erfüllten. Sie waren also per Definition gar keine Reizdarmpatienten mehr! In der Plazebogruppe erreichte diese Heilung kein einziger RDS-Betroffener (Ghoshal et al.,2016). Seitdem unterstrichen zahlreiche weitere klinische Studien diesen Zusammenhang: Eine recht große Subgruppe der als Reizdarmsyndrom klassifizierten Betroffenen von Durchfällen, Bauchschmerzen, Verstopfung etc. leidet in Wahrheit unter einer Dünndarmfehlbesiedlung und ist damit nicht nur therapierbar, sondern kann sogar geheilt werden!
Übersicht: Diese Erkrankungen sind von den Forschern mit der Dünndarmfehlbesiedlung assoziiert worden
Reizmagen |
Reizdarmsyndrom
|
Morbus Crohn | Colitis ulcerosa |
Divertikulitis | Systemische Sklerose |
Operationen im Bauchraum (vor allem Entfernung der Gallenblase oder von Teilen des Magens oder Darms) |
Koronare Herzerkrankung |
Diabetes mellitus | Unterfunktion der Schilddrüse |
Nichtalkoholische Fettleber |
Entzündung der Bauchspeicheldrüse Pankreatitis |
Morbus Parkinson | Restless Legs Syndrom |
Rosacea | Fibromyalgie |
Chronisches Erschöpfungssyndrom | Prädiabetes; relative und reaktive Hypoglykämie |
Welche Risikofaktoren die Entstehung einer Dünndarmfehlbesiedlung begünstigen können.
Bereits bei der Beschreibung der Pathophysiologie hatte ich darauf hingewiesen, dass verschiedene physiologische Mechanismen dazu dienen, den eher mager besiedelten Dünndarm vor einem Aufsteigen und Ausbreiten von Keimen aus dem stark bevölkerten Dickdarm zu schützen (etwa die Motilität und die Magensekretion). Werden diese wichtigen Schutzfunktionen durch Operationen, Medikamente, Fehlernährung und andere Faktoren negativ beeinflusst, begünstigt dies die Entstehung einer Dysbiose des Dünndarms. Wir sprechen also von Risikofaktoren oder Ursachen der bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung.
Einige dieser Risikofaktoren finden sich auch bereits in der oben dargestellten Tabelle, welche die bisher von den Forschern mit der DDFB assoziierten Erkrankungen präsentiert. Eine positive Assoziation ist noch lange keine Kausalität, so dass wir darauf achten müssen, die Querverbindungen zwischen SIBO und anderen Erkrankungen nicht in einen Topf zu werfen. So scheint die Dünndarmfehlbesiedlung die Darmsymptome (Durchfälle, Bauchschmerzen, Verstopfung, Blähungen) erst zu erzeugen, welche dann nach den ROM-IV-Kriterien zur Diagnose des Reizdarmsyndroms führen. Andererseits begünstigen eine Schilddrüsenunterfunktion (via Immunmodulation) oder verschiedene Operationen im Bauchraum (Beeinträchtigung von Motilität etc.) die Entstehung einer Dünndarmfehlbesiedlung. Im ersteren Fall ist die DDFB also Ursache oder doch zumindest ein bedeutender Krankheitsmechanismus, im zweiten jedoch Folge einer anderen vorliegenden Störung oder Erkrankung!
Generell lassen sich die Risikofaktoren der Dünndarmfehlbesiedlung in vier übergeordnete Mechanismen unterteilen (Quigley & Quera,2006):
- herabgesetzte Motilität des Dünndarms oder anatomische Veränderungen, die zur Stase (Stauung) führen
- Veränderungen der Immunität und fehlende Abwehr von Mikroorganismen
- Störungen der Produktion und Sekretion von Magensäure, Gallensäuren und Verdauungsenzymen
- Zustände, die ein vermehrtes Aufsteigen von Mikroorganismen aus dem Dickdarm in den Dünndarm begünstigen
Bevor ich die einzelnen Risikofaktoren dieser Kategorien in einer Übersicht zusammenfassen werde, möchte ich aufgrund seiner enormen Bedeutung und dem Zusammenhang zum Reizdarmsyndrom noch kurz auf den sogenannten Migrierenden motorischen Komplex (MMC) eingehen. Der MMC ist ein zyklisch wiederkehrendes Aktivitätsmuster von Magen und Dünndarm, welches verstärkt im nüchternen Zustand (Fastenpausen zwischen den Mahlzeiten) arbeitet. Ein einzelner Komplex dauert etwa 90 bis 120 Minuten und kann grob in drei Phasen unterteilt werden, wobei besonders Phase 3, in welcher starke Kontraktionen der Darmmuskulatur den Inhalt des Dünndarmes vorantreiben, für die Verhütung einer Dünndarmfehlbesiedlung unerlässlich ist, da hierbei nicht nur der Nahrungsbrei, sondern auch Mikroorganismen zuverlässig in den Dickdarm "abgeschoben" werden (Deloose et al.,2012). Zahlreiche Medikamente und Erkrankungen, aber auch eine zu reichhaltige und zu häufige Nahrungsaufnahme beeinflussen den MMC negativ, was mit höheren Prävalenzen der DDFB in Verbindung gebracht wurde. Eine Wiederherstellung eines kräftigen und physiologischen Migrierenden motorischen Komplexes ist deshalb ein wichtiger Schritt bei der Verhinderung von Rücküberwucherungen (Rückfällen der DDFB nach zuvor erfolgreicher Therapie)!
Interessanterweise ist die Beeinträchtigung des MMC eine evidente Konsequenz vieler gastrointestinaler Infektionen. Letztere stellen aber auch einen der bedeutendsten Risikofaktor für die Entstehung eines Reizdarmsyndroms dar (Klem et al.,2018). Laut Dr. Pimentel könnte die Dünndarmfehlbesiedlung eine vermittelnde Variable zwischen Gastroenteritis und späteren Reizdarmsymptomen sein, da die akute Entzündung sowohl imstande ist, das Immunsystem zu manipulieren und auch den MMC negativ zu beeinflussen.
Risikofaktoren für die Entstehung einer Dünndarmfehlbesiedlung, geordnet nach den vier zentralen Mechanismen
Verminderte Motilität | verminderte Immunität |
verminderte Magensäure, verminderte Gallensäuren etc. |
vermehrte Bakterienwanderung |
akute infektiöse Darmerkrankungen (durch Störung des MMC) |
medikamentöse Immunsuppression | Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) | Entfernung der Ileozäkalklappe (etwa bei Morbus Crohn) |
Zöliakie |
ererbte Immunschwächen (z.B. IgA-Mangel) |
Leberzirrhose | |
Systemische Sklerose | Schilddrüsenunterfunktion |
Entfernung der Gallenblase |
|
Überernährung, fehlende Fastenzeiten | Mangelernährung (Mikronährstoffe, Gesamtkalorien) | Protonenpumpenhemmer (PPI, einer der stärksten Risikofaktoren!) | |
Gastroparese | Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) | Bauchspeicheldrüsenschwäche | |
Divertikel | HIV | höheres Lebensalter | |
"blinde Schleifen" nach Operation | |||
Diabetes mellitus | |||
Opioide (Loperamid!) | |||
höheres Lebensalter | |||
chronischer Stress | |||
(siehe Dukowicz et al.,2007) |
Reizdarmpatienten sollten in dieser Übersicht vor allem drei Risikofaktoren ins Auge fallen, da sie sehr häufig im Rahmen ihrer Erkrankung zu finden sind: die Hyperplasie und Überaktivierung der Mastzellen (MCAS), die regelmäßige Einnahme des Durchfallhemmers Loperamid (Markenname: Imodium) und die regelmäßige Einnahme von Protonenpumpenhemmern zur Linderung von Sodbrennen, Reizmagen etc. Finden sich bei dir einzelne oder gar Kombinationen der genannten Risikofaktoren, dann solltest du dich unbedingt einer vernünftigen Diagnostik der Dünndarmfehlbesiedlung stellen, welche am besten im Intervall von mehreren Jahren wiederholt werden sollte!
Dünndarmfehlbesiedlung (DDFB) vs. Methanogen Überwucherung (Intestinal Methanogen Overgrowth - IMO)
Dr. Pimentel und Kollegen verweisen aber seit kurzer Zeit ausdrücklich darauf, dass es sich bei der vermehrten Produktion von Methan im Atemgastest bei Betroffenen mit Verstopfung nicht um eine Sonderform der Dünndarmfehlbesiedlung handele. Ihrer Meinung nach deuten die allermeisten Befunde darauf hin, dass sich die Vermehrung der Methanbildner im Rahmen der chronischen Verstopfung nicht auf den Dünndarm beschränke und auch im Dickdarm zu finden sei. Die Experten sprechen deshalb statt von SIBO (H2-Atemgastest, Aspirat und DNA-Sequenzierung) von IMO (Intestinal Methanogen Overgrowth; Methan-Atemgastest und fäkale DNA-Sequenzierung). Dies mag ebenfalls wieder etwas detailversessen klingen, aber auch dieser Schritt hin zu einer klaren Definition zieht Konsequenzen bei Diagnostik und Therapie nach sich (in diesem Fall für die vielen Verstopfungsgeplagten unter uns, welche häufig innerhalb der Forschung etwas zu kurz kommen).
Dünndarmfehlbesiedlung und Psyche
PsychE und Dünndarmfehlbesiedlung: mögliche Symptome
Depressive Verstimmung |
Angststörungen Soziale Phobie, Agoraphobie, Generalisierte Angststörung |
somatoforme Störungen | Panikstörung, Panikattacken |
Hypochondrie |
Tachykardien, beschleunigter Herzschlag, Herzrasen |
trockener Mund | Schweißausbrüche |
Händezittern | Brustenge |
Kurzatmigkeit | Übelkeit |
Schwindel | Erschöpfung, Müdigkeit |
Brain Fog | Konzentrationsstörungen |
Wortfindungsstörungen | Gedächtnisstörungen |
verminderte Stresstoleranz/Resilienz | |
Nachdem ihr euch tapfer bis an diese Stelle vorgearbeitet habt, solltet ihr nun eine grobe Vorstellung davon haben, was die Dünndarmfehlbesiedlung oder eben Dünndarmdysbiose ist, warum sich so einiges an ihrer Behandlung und Diagnostik ändern muss und wie eng sie mit der effektiven Therapie des Reizdarms verbunden ist. Um euch aber nicht zu überfordern, machen wir nun eine erste Pause, damit ihr die neuen Erkenntnisse erst einmal verdauen könnt. (Und verdauen ist ja gerade für uns Darmpatienten eine äußerst wichtige Angelegenheit!)
Im nächsten Blogbeitrag zur DDFB werden wir uns dann mit der richtigen Diagnostik der Störung beschäftigen, bevor wir uns endlich auch der effizienten Therapie zuwenden werden.
Bleibt mir bis dahin gewogen! Ich wünsche euch allen gute Besserung und beste Heilerfolge!
Schon kapiert! Du willst gleich mit der Praxis loslegen, um deinen Reizdarm, deine Fibromyalgie etc. zu heilen. Dann zeige ich dir nun erst einmal, wie man eine Dünndarmfehlbesiedlung feststellt. Denn bei der Diagnose der DDFB gibt es ebenfalls einige Stolperfallen!
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Abbildungsverzeichnis
Abb1
Avelar Rodriguez D, Ryan PM, Toro Monjaraz EM, Ramirez Mayans JA, Quigley EM. Small Intestinal Bacterial Overgrowth in Children: A State-Of-The-Art Review. Front Pediatr. 2019;7:363. Published 2019 Sep 4. doi:10.3389/fped.2019.00363
Abb2
Saffouri GB, Shields-Cutler RR, Chen J, et al. Small intestinal microbial dysbiosis underlies symptoms associated with functional gastrointestinal disorders. Nat Commun. 2019;10(1):2012. Published 2019 May 1. doi:10.1038/s41467-019-09964-7
Abb3
Ghoshal UC, Shukla R, Ghoshal U. Small Intestinal Bacterial Overgrowth and Irritable Bowel Syndrome: A Bridge between Functional Organic Dichotomy. Gut Liver. 2017;11(2):196-208. doi:10.5009/gnl16126