Wie Zucker dein Gehirn umprogrammiert (und warum das schlecht für deine Krankheit ist)

Zuckerstücke mit einem Giftsymbol für Patienten
Zucker hat viele negative Auswirkungen auf unseren Organismus: Er beeinflusst den Hippocampus, begünstigt Neuroinflammation, verändert die Darmflora und irritiert unser Immunsystem.

Warum die Lebensmittelindustrie das "richtige Maß" liebt und wie viel Zucker "empfohlen" wird.

Spreche ich mit Klienten oder Bekannten über das Thema Zucker in unserer täglichen Ernährung muss ich leider häufig feststellen, dass bei vielen Zeitgenossen ein großes Halbwissen vorzuherrschen scheint. Nahezu jeder Mensch hat zu unserem weißen süßen Freund eine starke Meinung - die einen schimpfen auf die Zuckerlobby und das Gespräch wendet sich sehr schnell der sich ständig verschlechternden Zahngesundheit, dem sprunghaften Anstieg von Übergewicht und Diabetesdiagnosen bei Kindern (früher wurde der Typ II ja einmal "Altersdiabetes" genannt ...) und natürlich auch den durch Zucker verstärkten Verhaltensauffälligkeiten wie mangelnder Impulskontrolle und Aufmerksamkeitsdefiziten zu.  In differenzierter Form würde übrigens auch ich jeden dieser Punkte bestätigen.

Andere finden das heutige "Zucker-Bashing" übertrieben, verweisen auf ihre eigene Jugend oder ihre Großeltern und sehen den Zucker mit Gluten, rotem Fleisch etc. als "neue Sau, die durchs Dorf getrieben werden muss". Ihr Prinzip lautet: "Einfach das richtige Maß halten, dann ist auch das tägliche Stück Kuchen am Kaffeetisch kein Problem!" Und was den Vertretern dieser (für mich hochproblematischen!) Einstellung in die Hände spielt, ist unsere, um im obigen Sprachbild zu verbleiben, gewinnorientierte und hyperrapide Medienwelt, welche jegliches Maß verloren zu haben scheint und sich selbst und ihre eigentliche Funktion im brennenden Wettlauf um die wirkmächtigste, Verkäufe fördernde und Klicks produzierende Schlagzeile verliert.

 

Erinnert sich eigentlich noch irgendjemand an die Aufmacher in allen großen deutschsprachigen Wochenzeitungen nach der Veröffentlichung des Buches "Die bittere Wahrheit über Zucker: Wie Übergewicht, Diabetes und andere Erkrankungen entstehen und wie wir sie besiegen können" durch den Professor für Neuroendokrinologie Dr. Peter Lustig? Die Aussagen des Autors wurden zugespitzt und anschließend marktschreierisch verpackt. Kurz darauf durften sich sowohl Vertreter der Industrie als auch neutrale Wissenschaftler zu dem vermeintlich kontroversen Thema äußern, bevor es flugs wieder in den Tiefen des Internets oder der Welt alternativer Heilmethoden verschwand.  Der typische Zeitungsleser konnte aus diesem rasanten und meist oberflächlichen "Diskurs", der zudem massiv aber geschickt durch Interessengruppen beeinflusst wurde, kaum ein handlungsbeeinflussendes Fazit generieren. Am ehesten lautete dieses nämlich, wie weiter oben bereits angedeutet: Man müsse nur auf das richtige Maß an Zucker achten.

Aber was genau ist dieses "richtige Maß"? An welchen Daten sollten wir uns bei unserer täglichen Ernährung orientieren? Sind die durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfohlenen 10% der Gesamtkalorien dieses "richtige Maß"? Das wären bei meiner täglichen Kalorienzufuhr immerhin knapp 75g täglich - oder um es etwas visueller zu schreiben, mehr als eine Tafel Milka oder eine Packung Toffifee - und zwar jeden einzelnen Tag des Jahres! Nun wirst du vielleicht einwenden wollen, dass nur die wenigsten von uns ihren gesamten Zuckerkonsum durch eine Tafel Schokolade decken. Es finden sich viel eher einige Gramm im Früchtejoghurt, wieder einige im Ketchup usw. Doch ändert diese Modalität tatsächlich etwas am erschreckenden Befund? Aktuell verzehren vor allem junge Erwachsene in Deutschland bis zu 18,2% ihrer Gesamtkalorien in Form freien Zuckers (Ernst und Kollegen, 2019). Das ist absolut alarmierend! 

 

Für die Lebensmittelindustrie oder eben auch "Zuckerlobby" ist der (Fehl-)Schluss des richtigen Maßes ein feuchter Traum.  Denn so lange sich Medien, Verbraucher und eben jene einig darüber sind, dass es ja lediglich am individuellen Einzelnen liege eben jenes für ihn perfekte Maß zu finden, wird es keine persönlichen (Verzicht) aber auch keine staatlichen Eingriffe (etwa Zuckersteuer oder Nährwertampel) Strategien zur Steuerung des Zuckerkonsums geben. Jeder einzelne von uns ist also in der Pflicht, einen korrekten Umgang mit dem Genussmittel Zucker zu finden. Doch genau in diesem Faktum liegt der sprichwörtliche Hund begraben und die Hersteller reiben sich vergnügt die Hände, denn: Das Einhalten jener Genussgrenze gelingt nur den allerwenigsten Menschen. Dies liegt nur bedingt an Einflussfaktoren wie Marketingstrategien, "versteckten" Zuckerquellen oder individuellen Persönlichkeitsausprägungen. Der Grund für das ständige Nicht-Einhalten des "richtigen Maßes" ist in den Eigenschaften der Substanz Zucker selbst zu suchen, denn diese wirkt erwiesenermaßen psychoaktiv, stimmungsmodulierend, verhaltenssteuernd und gewohnheitsformend (Referenzen zu dieser Aussage im weiteren Textverlauf). Bei den allermeisten vergleichbaren Substanzen (Nikotin, Koffein etc.) sprechen wir aus diesem Grund von einer Droge. 

 

Dass das Maß-halten beim Zucker alles andere als einfach ist zeigt allein der Fakt, dass selbst die liberalen Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung permanent überschritten werden. Dies betrifft nicht nur alle Altersgruppen vom Kleinkind bis zu den Senioren, sondern findet auch trotz eines steigenden Gesundheitsbewusstseins innerhalb der Bevölkerung statt. Die allermeisten Menschen unserer Bildungsnation wissen (zumindest teilweise) um die negativen Auswirkungen des Zuckerkonsums auf ihre Gesundheit, doch jeder hat da wohl sein eigenes Maß (/ironie aus) und der permanente Konsum des Zuckers treibt die Schwelle dieses Maßes durch die schleichende Veränderung unserer Hirnstrukturen und -funktionen immer weiter nach oben.

 

Zucker ist nicht "nur" für "Love-Handles", Diabetes und schlechte Zähne verantwortlich!

Bereits weiter oben hatte ich angedeutet, dass die negativen Auswirkungen des Zuckers auf unsere Gesundheit aufgrund des verbreiteten Halbwissens massiv unterschätzt werden. Inzwischen kennen wir eine ganze Kaskade dieser negativen Effekte und einzigartigen metabolischen Reaktionen. Dazu gehören (Die Aufzählung ist lange nicht vollzählig. Ausgespart habe ich etwa die oben genannten bekannten Faktoren wie Karies etc. Ein besonderes Augenmerk liegt natürlich auf den gewichtigen Variablen für uns Patienten mit RDS, CFS, MCAS, CED):
  1. Zucker kann deine Herzgesundheit negativ beeinflussen! Eine zuckerreiche Ernährung erhöhte das Risiko für Herzerkrankungen um den Faktor 3. Die Wissenschaftler vermerkten, dass eine Reduktion von Zucker wichtiger für die Herzgesundheit sei, als die Reduktion von gesättigtem Fett. (DiNicolantonio und Kollegen, 2016). 
  2. Zucker irritiert dein Immunsystem! Unser Immunsystem reagiert auf zuckerhaltige Mahlzeiten mit einer irrtümlichen Antwort und mit vermehrten systemischen Mikroentzündungen (Brown und Kollegen, 2012).  Dies ist besonders für mich und dich als Leser dieses Blogs ungünstig, mischen doch bei unseren Erkrankungen - von CFS über RDS bis CED - chronische Infektionen fleißig mit im Spiel der Pathomechanismen! Wir brauchen also ein möglich starkes und wehrhaftes Immunsystem.
  3. Zucker verändert deine Hirnfunktionen! Der übermäßige Konsum von Zucker wirkt sich negativ u.a. auf das Hirnareal des Hippocampus aus. Dadurch können sich Gedächtnis- und Lernleistung verschlechtern, während neuroentzündliche Prozesse begünstigt werden (Hsu und Kollegen, 2015). 
  4. Zucker verändert deine Darmflora negativ! Zucker begünstigt die Vermehrung potentiell-pathogener Darmbakterien und trägt somit zur Entstehung einer entzündlichen Darmflora ("Dysbiose") bei (Spreadbury, 2012).  Diese Dysbiose mit einer Vermehrung gram-negativer Bakterien samt Freisetzung von LPS und Stimulierung der Mastzellen etc. findet sich ebenfalls bei allen unseren Erkrankungen! (Mehr zu den Auswirkungen von Zucker spezifisch auf unseren Darm im nächsten Artikel dieser Reihe.)
  5. Zucker könnte karzinogen wirken! Auch wenn ich diesen Punkt aufgrund fehlender weiterer Untersuchungen im Konjunktiv formulieren muss, ist dessen Entstehung umso bemerkenswerter, denn die zugrunde liegenden Daten wurden in Studien erhoben, welche ursprünglich von der Zuckerindustrie bezahlt und dann aufgrund "ungeeigneter" Ergebnisse zurückgehalten wurden. Eine Reanalyse dieser Daten deckte einen Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum, dem Mikrobiom und verschiedenen Krebsenzymen auf (Kearns und Kollegen, 2017).  In aktuelleren Tierstudien konnte hingegen demonstriert werden, dass eine, der in der menschlichen Ernährung vergleichbare, Menge an Zucker das Krebsrisiko erhöht und die Metastasenbildung fördert (Jiang und Kollegen, 2016).  Dies deckt sich mit den Darstellungen des populären Krebs- und Altersforschers Professor Valter Longo, welcher ebenfalls die übermäßige Zufuhr von Zucker und teilweise Proteinen für die Entstehung vieler Krebsleiden verantwortlich macht. 
  6. Zucker wirkt sich negativ auf dein psychisches Wohlbefinden aus! Wissenschaftler der Universität London bestätigten durch eine Untersuchung negative Auswirkungen von Zuckerkonsum auch auf die langfristige psychische Stabilität der Teilnehmer (Knüppel und Kollegen, 2017).  

Interessanterweise scheinen die allermeisten negativen Auswirkungen des Zuckerkonsums (Diabetes, Krebs, Herzgesundheit, Angst und Depression, Immunfunktion) über die Darmflora vermittelt zu sein. Dies wird durch Untersuchungen an so genannten "germ-free mice", also Mäusen, deren Darm künstlich steril gehalten wurde, nahegelegt. 

 

Gerade für uns Patienten mit Reizdarmsyndrom, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Mastzellaktivierungs-Syndrom und Chronischem Erschöpfungssyndrom scheint es also absolut sinnvoll, unseren Zuckerkonsum massiv einzuschränken! Wir können dadurch Einfluss auf unsere Darmflora (Mikroinflammation, Endotoxin LPS, Darmbarriere, Hypersensitivität), das Immunsystem (Mastzellen, chronische Infektionen) und psychische Prozesse (Angst, Somatisierung, gut-microbiome-brain-axis) nehmen. 

 

Diese Strategie liegt auch zahlreichen populären und effektiven diätetischen Ansätzen zur Behandlung unserer Erkrankungen zugrunde, so der Spezifischen Kohlenhydratdiät,  der Gut-and-Psychology-Syndrome (GAPS) Diät, der Ketogenen Ernährung (z.B: paleo-ketogenic diet zur Behandlung des Chronischen Erschöpfungssyndroms) und auch den verschiedenen Paleokonzepten

Gehen wir es also an!

 

"Ich halte das nicht mehr länger durch!" - Warum so viele Reizdarm-Patienten an der Reduktion des Zuckers scheitern.

Nun lebe ich nicht hinter dem Mond (Jaja, ich weiß schon: Die Lausitz und die Wölfe). Aus zahlreichen Gesprächen, Zuschriften und meinen eigenen Erfahrungen mit SCD, Paleo und Co. weiß ich, dass eine Reduktion oder gar Elimination freien Zuckers alles andere als ein "Zuckerschlecken" ist (Sorry für diesen billigen Kalauer, aber ich konnte es mir nicht verkneifen). Klienten und Leser berichten mir regelmäßig von wiederholten missglückten Diätversuchen mit extremen Heißhungerattacken und sogar Entzugserscheinungen. Oft enden einige Tage oder wenige Wochen des strengen Zuckerverzichts in einer großen Krise. Die von zahlreichen Symptomen geplagten Diätwilligen geben ihrem Verlangen schließlich nach und finden sich nicht selten in einer wahren Fressorgie wieder, für welche sie sich hinterher in Grund und Boden schämen. (Hierzu hätte ich einige schräge und vielleicht auch etwas absonderliche Geschichten auf Lager, welche ich über die Jahre zu hören bekommen habe, doch natürlich sind diese Enthüllungen meiner Klienten bei mir bestens verwahrt.) Doch abgesehen von der Scham stellen viele dann erstaunt fest, dass es ihnen, zumindest vom subjektiven Wohlbefinden her betrachtet, wieder besser geht. 

 

Fragt man einen Menschen, der sich weder praktisch noch akademisch mit diesen Phänomenen beschäftigt hat, zu seiner Meinung über solche Berichte, dann ist der Schuldige recht schnell gefunden. Natürlich liegt es an der individuellen Willensstärke oder eben -schwäche des Einzelnen. Wir sprechen hier schließlich über ein Lebensmittel, den Zucker, und nicht über Kokain oder Nikotin! Vielleicht sollten die jungen und gesundheitsbewussten Menschen unserer Generation einfach einmal die Pobacken zusammenkneifen? 

 

Das klingt aus einer Laienperspektive irgendwie nachvollziehbar. Und doch ... 

 

Zucker kann tatsächlich wie eine Droge (etwa Kokain oder Nikotin) wirken. Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass wir erst heute die Auswirkungen des Konsums zu spüren bekommen. Dazu zählen meiner Ansicht nach: 

  1. Der Konsum freier Zucker ist seit der Industrialisierung extrem gestiegen. Nach Zollaufzeichnungen des Deutschen Reiches lag er 1874 bei ca. 6kg pro Kopf, während er heute recht konstant zwischen 35 und 40kg schwankt. 
  2. Bestimmte Verhaltensweisen des westlichen Lebens begünstigen die negativen Auswirkungen von Zucker auf unsere Gehirne. So konnte in Studien gezeigt werden, dass die neuronalen Effekte deutlich höher waren, wenn ein starker Zuckerkonsum nach einer vorausgehenden Fastenphase erfolgte. Wie viele von uns verlassen die Wohnung frühmorgens ohne ein reichhaltiges Frühstück und nur mit einem Kaffee im Magen? Und wie viele stillen dann ihren Heißhunger im Büro mit einem Snickers aus dem Automaten oder einer Kirschtasche beim Bäcker um die Ecke? 
  3. Fehlende Kompensationsmechanismen lassen den Zuckerkonsum deutlicher spürbar werden.  Neben dem Zuckergehalt unserer Ernährung nehmen natürlich weitere Faktoren Einfluss auf die Entstehung verschiedener Krankheiten. Hierzu gehören beispielsweise der sinkende Konsum von Ballaststoffen/Präbiotika (entzündliches Mikrobiom), aber auch mangelnde Bewegung. 
  4. Die deutlicher spür- und sichtbaren Auswirkungen des Zuckerkonsums und das vermehrte Wissen um dessen Problematik motivieren deutlich mehr Menschen zu einem Verzicht.  Seien wir ganz ehrlich, über die relevanten Probleme einer Gesellschaft bestimmt der vorliegende historische, sozioökonomische Kontext. Mein Vater bspw. wurde nach dem Krieg geboren. In seiner Kindheit machte man sich keine Gedanken über die negativen Auswirkungen von Zucker, sondern freute sich über alles, was man seinen Kindern geben konnte. Dazu gehörte laut meinem Vater oft eine Scheibe Graubrot mit reinem Zucker, da Butter, Wurst etc. eben Mangelware waren.  Der heute vorhandene Luxus scheint für die Gesellschaft Fluch und Segen zugleich zu sein.
Schema der Zuckerabhängigkeit bzw. -sucht mit Effekten wie Bingeing, Sensitivierung, Freisetzung von Opioiden und Dopamin etc.
Schematische Darstellung der Mechanismen, die von einem regelmäßigen erhöhten Zuckerkonsum in eine Abhängigkeit führen können. (nach DiNicolantonio et al., 2017)

Die obige Darstellung beruht auf der wundervollen Übersichtsarbeit von DiNicolantonio und Kollegen (2017). Sie stellt schematisch die einzelnen Prozesse und Mechanismen dar, welche zu einer Sucht bzw. Abhängigkeit von Zucker führen können. Bevor wir auf die einzelnen Komponenten noch genauer eingehen werden, möchte ich aber gern die Zusammenfassung posten, zu welcher die Kardiologen und Neurobiologen nach intensivem Primärquellenstudium gelangten.

 

In Tierstudien hat Zucker mehr Symptome produziert als notwendig wäre, um als abhängig-machende Substanz klassifiziert zu werden. Im Tierversuch erhobene Daten erbrachten weiterhin zahlreiche Überschneidungen zwischen dem Konsum zugefügten Zuckers und drogentypischen Effekten: Bingeing, Verlangen, Toleranzbildung, Entzugserscheinungen, (Kreuz-)Sensitivierung, Kreuztoleranz, Kreuzabhängigkeit, Belohnungs- und Opioideffekte. Die Zuckerdependenz scheint von den natürlichen endogenen Opioiden abhängig zu sein, welche durch den Konsum von Zucker freigesetzt werden. Für Tiere und Menschen zeigt die aktuelle Evidenz der wissenschaftlichen Literatur deutliche Parallelen und Überschneidungen zwischen Zucker und harten Drogen von den Standpunkten sowohl der Neurochemie als auch der Verhaltensforschung.
 

Schauen wir uns nun einige der von James DiNicolantonio und Kollegen postulierten Mechanismen etwas genauer an.

 

Gesteigerter Zuckerkonsum setzt körpereigene Opiode und Dopamin frei und produziert ein Belohnungserlebnis vergleichbar dem Drogenkonsum

Ganz am Anfang steht natürlich der Konsum einer zuckerreichen Mahlzeit. Dies führt, im Gegensatz zu einem arttypischen, geschmacklich eher als langweilig zu bezeichnenden (bspw. Fisch und Gemüse) Gericht, zu einer signifikant erhöhten Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin (Avena und Kollegen, 2008). Außerdem wird auch die Anbindung dieses Neurotransmitters an seine Rezeptortypen beeinflusst. 

Dopamin ist ein biogenes Amin aus der Gruppe der Katecholamine und einer der wichtigsten Neurotransmitter des Zentralen Nervensystems. Vom Volksmund wird das Dopamin häufig als "Glückshormon" bezeichnet, da zahlreiche Studien eine vermehrte Ausschüttung während und nach angenehmen Aktivitäten - vom guten Essen bis zum guten Sex - nahelegen. Psychologen und Mediziner sehen die eigentliche Funktion des Dopamins aber vielmehr im Bereich der Antriebssteigerung und Motivationsgenerierung. 

 

Trotz der inzwischen langen Forschungsgeschichte seit den 50er Jahren sind bis heute nur wenige Details über den Neurotransmitter bekannt. Unstrittig ist allerdings, dass dem Dopamin eine bedeutende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung verschiedener Suchterkrankungen zugeschrieben werden kann.  Eine Verschiebung im Dopaminhaushalt ist auch die Ursache für die beschriebenen Entzugssymptome dieser Erkrankungen. 

 

Ein weiteres kurzfristig zu beobachtendes Phänomen des Zuckerkonsums ist die Ausschüttung körpereigener Opioide (Fullerton und Kollegen, 1985).  Dabei handelt es sich um körpereigene Peptide, welche rasant Schmerz- und Hungerreize unterdrücken, sowie eine kurzfristige Euphorie produzieren können (dies ist auch der Mechanismus hinter dem oft zitierten "Frustessen"). 

 

Zucker erzeugt also massive Belohnungseffekte via der Produktion und Rezeptorbeeinflussung von Dopamin und endogenen Opioiden. Diese Belohnungseffekte im Gehirn sind tatsächlich stärker ausgeprägt als jene hervorgerufen durch den Konsum von Kokain (Snow, 1948). 

 

Verstärkter Zuckerkonsum führt zu einer verzögerten Freisetzung von Acetylcholin.

Abb4: Zucker beeinflusst die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin.
Abb4: Zucker beeinflusst die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin.
Acetylcholin ist ein weiterer Neurotransmitter, welcher durch den übermäßigen Konsum von Zucker negativ beeinflusst wird. Im Normalfall einer gesunden Mahlzeit steigt der Spiegel dieses Neurotransmitters etwa in der Hälfte des Verzehrs an. Dies ist vermutlich deshalb notwendig, weil die Forscher das Acetylcholin inzwischen in Zusammenhang mit dem Gefühl der Sattheit gebracht haben. Das ansteigende Acetylcholin signalisiert unserem Gehirn also, dass unser Körper genug Nährstoffe aufgenommen hat. Eine ziemlich klug ausgetüftelte Strategie von Mutter Natur, nicht wahr?

Nur leider funktioniert dieser Mechanismus bei zuckerhaltigen Mahlzeiten nicht. Der Zucker bewirkt nämlich, dass das Acetylcholin erst deutlich verspätet ausgeschüttet wird, teilweise sogar erst nach dem Vollenden der Mahlzeit. Durch die nun fehlende Rückmeldung der Sattheit kommt es zum Überkonsum und Eskalationen im Ernährungsverhalten (Avena und Kollegen, 2008).

 

Eine Eskalation des Ernährungsverhaltens führt zur Sensitivierung des Verlangens und zur Toleranzbildung für das erwartete Belohnungserlebnis.

Die Kombination der oben genannten Faktoren, nämlich ein massives Belohnungsempfinden mitsamt schmerzlindernder und euphorieinduzierender, stimmungsaufhellender Effekte plus der verzögerte Eintritt eines Sättigungsgefühls, führt in ein noch größeres Dilemma. 

Zum einen werden mehr und mehr zuckerhaltige Lebensmittel konsumiert, zum anderen kommt es immer häufiger zum so genannten Bingeing, also dem übermäßigen Konsum einer Substanz - auf deutsch: dem Überfressen oder wahren Fressorgien. 

 

Diese verhaltenssteuernde Wirkung des Zuckers trägt zusätzlich zu einem Prozess bei, den wir Sensitivierung nennen.  Mit diesem Begriff wird ein Phänomen beschrieben, bei dem Reize durch regelmäßige Wiederholung verstärkt werden. Die Sensitivierung gehört zu den grundlegenden Merkmalen jeder Abhängigkeit. Du kannst dir das wie einen Trampelpfad durch einen dichten Wald vorstellen. Begehst du als einer der ersten diesen Pfad, wirst du nur sehr langsam vorankommen. Doch umso mehr Leute dir folgen und den Untergrund festtreten, die Ränder ausweiten, niedriges Astwerk abschlagen etc., desto leichter werden es spätere Wanderer haben. Sie können die gleiche Strecke in sehr kurzer Zeit zurücklegen, ohne größere Mühen. 

Das klingt doch eigentlich erst einmal ganz hilfreich, oder? Aber die Sensitivierung im Rahmen der Suchterkrankungen ist eine extrem hinterlistige Angelegenheit, denn sie bezieht sich lediglich auf das induzierte Verlangen. Selbst kleinste Mengen, visuelle oder andere Reize oder sogar der Gedanke an die Substanz können das Verlangen nach dem Konsum in gewaltige Höhen schnellen lassen! 

 

Doch damit nicht genug! Denn hier folgt der brutalste Teil der Geschichte. Während die Sensitivierung das Verlangen nach der Substanz massiv steigert, gilt dies nicht für das eigentliche erstrebte Belohnungsgefühl. Ganz im Gegenteil. Die Toleranzbildung sorgt nämlich dafür, dass immer mehr von der Substanz benötigt wird, um ein vergleichbares Wohlbefinden zu erzeugen. 

 

Das klingt nicht nach einem erstrebenswerten Zustand!

 

Abb5: Sensitivierung des Verlangens nach Zucker und Toleranzbildung gegenüber den Belohnungseffekten führt zum so genannten Bingeing (Überkonsum, oder im Volksmund Überfressen)
Abb5: Sensitivierung des Verlangens nach Zucker und Toleranzbildung gegenüber den Belohnungseffekten führt zum so genannten Bingeing (Überkonsum, oder im Volksmund Überfressen)

Die durch den Zucker entstandene Abhängigkeit von körpereigenen Opioiden führt zu Entzugserscheinungen bei Nichtkonsum

Stell dir nun bitte vor, wie du mit deinen Kollegen beim Bäcker Frühstückspause machst. Zu deinem gesüßten Cappuccino wählst du ein Schokocroissant und einen Donut für später am Rechner. Bereits während dem Essen dieser Leckereien wird dein Gehirn mit Dopamin und endogenen Opioiden geflutet. Die Ankopplung an den einzelnen Rezeptoren verschiebt sich. Für dich fühlt sich das erst einmal nur klasse an: Ein Gefühl der Wärme, Geborgenheit und des Glücks übernimmt die Kontrolle. Die Sorgen um das kritische Gespräch mit dem Chef heute morgen? Ganz und gar vergessen! Die leichten Kopfschmerzen durch zu viel Kaffee, zu wenig Wasser und intensives Bildschirmstarren? Fast vollständig verschwunden! 

Nun herrschte lange Zeit die Meinung vor, der stetig steigende Zuckerkonsum seit der Industrialisierung sei vor allem auf psychologische bzw. kognitive Lerneffekte zurückzuführen. Zucker gibt uns eben jenes wohlige Gefühl. Wir verbinden den Geschmack eines süßen Honigbrötchens mit dem Sonntagsfrühstück im Kreise unserer Liebsten, den Blaubeerkuchen mit den frühen Geburtstagen unserer behüteten Kindheit und hoffen, uns durch diese Lebensmittel jene spontanen Glücksmomente wieder zugänglich zu machen, welche uns Halt geben können in einer sich immer schneller bewegenden und gnadenloseren Welt mit Digitalisierung, Globalisierung, Konkurrenzdruck usw. 

 

Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn genauso, wie unser Gehirn von synthetischen Opioiden abhängig werden kann, so stellt sich diese Dependenz mit der Zeit auch für endogene Opiode und den Dopaminkick ein. Aufgrund dieser Abhängigkeit erzeugt das plötzliche Unterlassen des regelmäßigen starken Zuckerkonsums auch Entzugserscheinungen vergleichbar mit harten Drogen oder einigen Medikamenten (Novelle & Dieguez, 2018).  Verwehrt man Labortieren nach dem Überfüttern (bingeing) mit Zuckerkost nach einigen Wochen den Zugang, zeigen diese stark erhöhte Lokomotion, Stressverhalten (inklusive Pfötchenzittern, Zähneklappern/-knirschen und vermehrtes Nagen) und sind deutlich ängstlicher (Plattform, Labyrinth etc.) als ihre Artgenossen. Dieses Phänomen ist übrigens nicht zu beobachten, wenn eine Kontrollgruppe mit fettreicher Kost regelmäßig Orgien feiern durfte ... 

 

Auch wenn viele Ärzte und Laien noch ungläubig mit ihren Köpfen schütteln, wenn ihnen Patienten oder Freunde von ihrem Zucker"entzug" berichten, so lohnt sich nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen im Tiermodell ein Blick in die Weiten des Internets, wo Betroffene ihre Strapazen nach vielen Jahren zuckerreicher westlicher Ernährung schildern.  

Doch die allermeisten motivierten Zuckerverächter wissen, dass sie diese unangenehmen Symptome, von Kopfschmerzen über Nervosität und starkem Verlangen/Heißhunger bis hin zu Schlafstörungen, ganz einfach mit einem süßen Snack zum Schweigen bringen können. Was wiederum den Teufelskreislauf antreibt. 

 

Durch jahrelangen Zuckerkonsum kommt es zu einem Dopaminmangel im Gehirn und zu einer Schädigung des präfrontalen Cortex

Abb6: Schematische Übersicht der Funktionen des Präfrontalen Cortex die durch eine Abhängigkeit nachhaltig negativ beeinflusst werden.
Abb6: Schematische Übersicht der Funktionen des Präfrontalen Cortex die durch eine Abhängigkeit nachhaltig negativ beeinflusst werden.
Die schließlich letzte Folge eines jahrelangen und übermäßigen Zuckerkonsums ist ein Mangel des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn bei Nichtverzehr oder "Unterdosierung". Dies ist natürlich nicht physiologisch, denn unser Gehirn ist nicht auf den Verzehr von Zucker angewiesen um einen ausreichenden Dopaminspiegel aufrechtzuerhalten. Auch Menschen mit einer nur sehr geringen Kohlenhydrataufnahme (bspw. einer ketogenen Diät) haben keinerlei Probleme mit einem solchen Mangel. Dieses schwerwiegende Problem entsteht tatsächlich erst durch die ständige Überstimulation von Dopamin durch exzessiven und regelmäßigen Überkonsum von Zucker (dies gilt aber prinzipiell für alle potenziell abhängig machenden Substanzen oder Verhaltensweisen: harte Drogen, Alkohol, Glücksspiel, Pornographie etc.) Unser Gehirn (wie auch der Rest unserer sehr fein eingestellten Körper) reagiert auf die dauernde Flutung mit Dopamin nämlich mit einem Trick der Neuroplastizität (der Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu verändern): Nach einer gewissen Zeit des Ge-/Missbrauchs nimmt die Zahl der Dopaminrezeptoren (v.a. D2) stark ab und auch der Dopaminspiegel sinkt beträchtlich (Volkow und Kollegen, 2018).  Dieser Dopaminmangel äußert sich vor allem in Antriebslosigkeit, Anhedonie, gedrückter Stimmung oder gar Depression (Defizite des Dopaminsystems sind einer der gewichtigsten biologischen Faktoren der Depressionserkrankung!).

 

Abschließend kommt es zu einer Dysfunktion des präfrontalen Cortex, eines besonderen Teils des Frontallappens (Goldstein & Volkow, 2011). Verändert sind dann vor allem jene Prozesse dieses Hirnareals, welche im Zusammenhang mit der Reizwahrnehmung der Substanz, der Wirkungsantizipation und des Aufmerksamkeits-Bias bezüglich der Substanz stehen. Andererseits finden sich auch Phänomene wie eine verminderte Fähigkeit Stress zu tolerieren, die Unfähigkeit zur Emotionsregulation (Angst, Wut) oder fehlende Motivation für andere Projekte (während die Motivation zum Konsum gesteigert ist). 

 

Fazit: Zucker erfüllt alle Voraussetzungen für die Klassifikation als potenziell Abhängigkeit erzeugende Substanz

Abb7: Gesammelte Evidenz für die Existenz der Zuckerabhängigkeit im Tiermodell anhand der DSM-Kriterien.
Abb7: Gesammelte Evidenz für die Existenz der Zuckerabhängigkeit im Tiermodell anhand der DSM-Kriterien.

Die obige Darstellung fasst noch einmal einen Teil der im Tiermodell gefundenen Evidenz für die Existenz der Zuckerabhängigkeit zusammen. Die Autoren nutzen dafür u.a. die Kriterien der Substanzabhängigkeit des Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft.  Anhand der festgehaltenen definitionsbildenden und Verhaltenssymptome, sowie den gemessenen neurochemischen Veränderungen, ist es meiner Meinung nach absolut plausibel von einer Abhängigkeit im eigentlichen Sinne zu sprechen. 

Diese Hypothese ist in der Lage zu erklären, warum viele von uns Willigen an der deutlichen Reduktion oder gar Elimination des Zuckers aus unserer täglichen Ernährung scheitern. 

 

Ich hoffe, dieser Artikel konnte dir einen (kleinen) Einblick in dieses faszinierende Feld vermitteln und dir einige Gründe liefern, warum du nie zu weit in diese Spirale abtauchen solltest. Denn die Abhängigkeit von Zucker und den damit verbundenen Belohnungsmechanismen (endogene Opioide und Dopamin), die eventuellen Entzugserscheinungen und resultierende Anhedonie etc. sind nur ein Vorgeschmack. Die wahre Teufelsspirale beginnt mit dem jahrelangen übermäßigen Konsum und der Erhöhung des Risikos für Herzerkrankungen, Diabetes mellitus und der Entgleisung deiner Darmflora (mit weiteren ungünstigen Folgen). 

 

 

Eine kleine Vorschau

In einem der nächsten Artikel werde ich mit dir darüber sprechen, wie eine zuckerreiche Kost auch deinen (Reiz-)Darm negativ beeinflusst und dir einen weiteren Grund geben, um streng auf den Zucker in deinen Lebensmittel zu achten. 

Weiterhin plane ich eine Anleitung mit wichtigen Tipps und Kniffen, wie du den Zuckerentzug überstehst. Dies ist besonders für jene von euch da draußen wichtig, welche sich schon jahrelang (meistens aufgrund ihrer Darmerkrankung) zuckerreich und ballaststoffarm ernähren. Gehen wir es also an!

 

Liebe Grüße und auf in den Kampf!

Thomas

 

Bildquellen

Übersichtsarbeit zur Zuckerabhängigkeit: selbst gestaltet - Primärquelle: DiNicolantonio und Kollegen (2018). Sugar addiction - Is it real: A narrative review. Br J Sports Med. 52(14):910-3.

Abb1, Abb2 und Abb.4: Avena und Kollegen (2008). Evidence for sugar addiction: behavioral and neurochemical effects of intermittent excessive sugar intake. Neurosci Behav Rev. 32(1):20-39.

Abb3: Fullerton und Kollegen (1985). Sugar, opioids and binge eating. Brain Res Bull. 14(6):673-80.

Abb.5: Novelle und Diguez (2018). Food addiction and binge eating: lessons learned from animal models. Nutrients. 10(1):71.

Abb6: Goldstein und Volkow (2011). Dysfunction of the prefrontal cortex in addiction: neuroimaging findings and clinical implications. Nat Rev Neurosci. 12(11):652-69. 

Abb7: Avena (2010). The study of food addiction using animal models of binge eating. Appetite. 55(3):734-7.