In regelmäßigen Abständen kommt es zu einem uns Darmkranken bereits wohlbekannten Phänomen: Mit Wucht taucht ein neues "Wundermittel" gegen den Reizdarm aus den Tiefen der Pharma-Laboratorien auf und verspricht in goldenen Lettern die Befreiung von chronischen Beschwerden des Reizdarmsyndroms. Keine kostenlose Zeitung, kein großflächiger Werbeaufsteller in der örtlichen Apotheke ist dann noch vor den Offenbarungen dieser Heilsbringer sicher. Auf YouTube und im Vorabendprogramm überschlagen sich die Erfolgsmeldungen vermeintlich kurierter Betroffener. Das kennst du als Patient natürlich alles genau so gut wie ich. Die Chance ist deshalb hoch, dass dich die ewig-gleichen Versprechungen sogar abschrecken, dir nur ein müdes Lächeln entlocken oder deine gesunde Skepsis anfachen. Und gerade letztere Reaktion sollte in jedem Fall deinen Umgang mit neuen Wirkstoffen prägen, insbesondere dann, wenn diese durch ein gewaltiges Marketingpaket begleitet werden. Doch das marktschreierische Anpreisen eines Produktes, das Klickködern und auch das Werben im "Mäntelchen der Wissenschaft" gehören heute zum marktwirtschaftlichen 1x1 und müssen nicht zwangsweise gegen die Qualität des Beworbenen sprechen. Gerade in den letzten Jahren mussten wir Betroffenen lernen, dass einige Wirkstoffe ihren Versprechungen im Kern gerecht werden, während andere, und oft jene, die in den dramatischsten Tönen und Farben gelobt werden, für die allermeisten von uns nichts weiter sind als moderne Beutelschneiderei.
Nun ist es wieder so weit! Ein neues Medikament namens Gelsectan (Klinge Pharma) erobert die Foren und Zeitschriften. Laut Eigenbeschreibung des Herstellers wirkt Gelsectan "spürbar innerhalb weniger Stunden", "stärkt durch eine Gelschicht die Darmbarriere", "unterstützt den Aufbau wichtiger Bakterienstämme für eine gesunde Darmflora" und "lindert die typischen RDS-Beschwerden wie Blähungen, Schmerzen und Durchfälle".
Wen wundert es bei solchen Aussagen, dass mich inzwischen zahlreiche Mails und YouTube-Kommentare erreichten, welche nach meiner Einschätzung des neuen Medikaments fragten. Diesem vielfach geäußerten Wunsch möchte ich natürlich gerne nachkommen und werde Gelsectan deshalb einem Test unterziehen, indem ich der wissenschaftlichen Evidenz hinter den oben gemachten Behauptungen etwas gründlicher auf den Zahn fühlen werde. Hält das neue Reizdarm-Medikament tatsächlich, was die Werbung doch recht vollmundig verspricht, oder entpuppt es sich als weiterer Marketing-Flop, von welchem wir Patienten lieber die Finger lassen sollten?
Wie immer möchte ich vor der Interpretation der Datenlage anmerken, dass ich in keiner Weise mit dem Hersteller von Gelsectan oder anderen Produzenten assoziiert bin. Ich bewerte die jeweiligen Wirkstoffe allein auf der Grundlage meinen inzwischen langjährigen Recherchen, sowie meiner persönlichen und den Erfahrungen meiner Leser, Zuschauer und Klienten. Reicht ein Produkt nicht an die Werbeaussagen heran, ist qualitativ-minderwertig oder überteuert, dann benenne ich das auch konsequent. Los geht es!
Was ist eigentlich Gelsectan?
Möchten wir ein Medikament wissenschaftlich einordnen, müssen wir uns natürlich erst einmal dessen Inhaltsstoffe genauer ansehen. Gelsectan enthält als wirksame Bestandteile Xyloglucan und Xylooligosaccharide.
Xyloglucan ist eine Hemizellulose, sprich ein Gemisch aus Polysacchariden, welches in den Zellwänden vieler Pflanzen vorkommt. Das menschliche Genom verfügt allerdings nicht über die notwendigen Gene, um Xyloglucan aufzuspalten, obwohl dieses ein bedeutender Bestandteil unserer Ernährung ist. Das Polysaccharid ist zum Teil wasserlöslich und wirkt dann stark schleimbildend, so dass sich ein schützender Film über die Epithelzellen des Darmes legen kann. Xyloglucan findet aufgrund der geschilderten Eigenschaften bereits Verwendung in der Lebensmittelindustrie und Medizintechnik, etwa als Binde- oder Verdickungsmittel. Für den Einsatz in Nahrungsergänzungsmitteln wird Xyloglucan zumeist aus dem Tamarindenbaum gewonnen. Viele meiner Leser fragten auch, warum in Gelsectan zusätzlich Erbsenprotein und Traubenkernextrat enthalten sind. Dies hat folgenden Hintergrund: In Studien konnte gezeigt werden, das die Präsenz und Bioverfügbarkeit von Xyloglucan im Gastrointestinaltrakt deutlich erhöht werden kann, wenn das Polysaccharid gemeinsam mit etwa Erbsenprotein verabreicht wird. Dies verlängert die protektive Wirkung des Xyloglucans für die Darmbarriere.
Xylooligosaccharide (XOS) sind Polymere des Zuckers Xylose. Sie haben stark selektive präbiotische Eigenschaften und vermehren innerhalb kurzer Zeit nachhaltig bspw. Bifidobakterien und Laktobazillen. Ihre Struktur unterscheidet sich mitunter stark von jener anderer Präbiotika. In wissenschaftlichen Studien nachgewiesene Effekte wie verbesserter Immunstatus, eine verbesserte Verdauungsleistung oder auch positive Auswirkungen auf die Blutzuckerregulation lassen sich daher bereits bei der Einnahme deutlich geringerer Mengen erzielen. XOS werden bereits seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kommerziell vermarktet (Japan), doch erst seit kurzem erleben die effektiven Präbiotika einen neuen Aufwind aufgrund verbesserter Syntheseverfahren samt Kostenminimierung.
Diese Wirkstoffe sind also enthalten und bereits auf den ersten Blick kann ich festhalten, dass zumindest die wissenschaftliche Rationale hinter Gelsectan stimmig ist. Schließlich setzt das Medikament an zwei Hauptmechanismen des Reizdarms an: der gestörten Darmbarriere (Leaky Gut Syndrom) und der Dysbiose des Dünn- und Dickdarms. Aber schauen wir uns doch einmal genauer an, wie die einzelnen Wirkstoffe in spezifischen Studien abschneiden!
Beweise für die Wirksamkeit von Xyloglucan
Dass die gestörte Funktion der Darmbarriere eine entscheidende Rolle bei der Pathophysiologie des Reizdarms spielt, ist heute unumstritten. So ist das Nachgeben des mehrgliedrigen Schutzschirmes mit schwereren Symptomen und einer Übersensibilität gegenüber somatischen und viszeralen Reizen assoziiert (Zhou und Kollegen,2009). Besonders häufig finden wir diese gastrointestinale Hyperpermeabilität (laienhaft meist "Leaky Gut Syndrom" genannt) im Rahmen des Postinfektiösen Reizdarmsyndroms (Thabane & Marshall,2009), der Nicht-Zöliakie-assoziierten-Glutensensitivität (Catassi und Kollegen,2017) und der Dünndarmfehlbesiedlung (Riordan und Kollegen,2002). Alle genannten Störungen sind massiv prävalent beim Reizdarmsyndrom. Nun sind natürlich solche reinen Korrelationen die eine Seite der Medaille. Doch kann das therapeutisch induzierte Wiedererstarken der Darmbarriere tatsächlich auch den Reizdarm lindern? Ja, das kann es, wie inzwischen mehrere Proof-of-Concept-Studien bspw. mit dem Wirkstoff Glutamin zeigen. Mitunter gingen mit der Verbesserung der Darmbarriere massive symptomatische Verbesserungen innerhalb nur weniger Wochen einher (z.B. Zhou und Kollegen,2019). Wir können also davon ausgehen, dass alles, was die Abwehrkräfte unserer Darmbarriere (wieder) erstarken lässt, auch unsere Darmbeschwerden vermindern kann. Aber gilt der erste Teil dieser Prämisse auch wirklich für Xyloglucan?
"Absolut!" - sagen die Ergebnisse zahlloser präklinischer Studien. So konnte in vitro gezeigt werden, dass Xyloglucan den (Trans-) Epithelialen elektrischen Widerstand (EEW) erhöht (einen Marker für eine gute Funktionsfähigkeit der "tight-junction-Proteine", welche die Permeabilität der Darmbarriere steuern), indem es eine schützende Gelschicht über die Epithelzellen legt (Bueno et al.,2015). Auf diese Weise gelang es dem Wirkstoff, eine gestörte Funktion der Darmbarriere (hervorgerufen durch E.coli-LPS oder Cholera-Toxin) im Tiermodell rückgängig zu machen. Diese schützende Wirkung gegenüber verschiedenen Pathogenen und ihren Toxinen gab Anlass zu ersten klinischen Studien bei akuter Gastroenteritis infektiöser Genese. Und tatsächlich: Die Gabe von Xyloglucan verminderte die Frequenz der Durchfälle, dickte den Stuhl ein, war sicher und erzielte erste messbare Effekte innerhalb weniger Stunden (z.B. Condratovici und Kollegen,2016). Ganz ähnlich beeindruckende Ergebnisse konnte man bei der Behandlung akuter Durchfälle bei Erwachsenen verzeichnen. Hier war Xyloglucan dem verbreiteten Anti-Durchfall-Mitteln S. boulardii und Diosmektit überlegen. Es reduzierte die Durchfälle schneller und senkte die Frequenz stärker - gemessen an der Häufigkeit von Stuhlgängen mit einem Bristol-Stool-Scale-Score von 6 oder 7 (Gnessi und Kollegen,2015). In dieser Untersuchung verminderte Xyloglucan weiterhin die Rate der Patienten mit Übelkeit von knapp einem Viertel der Interventionsgruppe auf lediglich 4% innerhalb weniger Stunden. Auch die Bauchschmerzen sollten sich signifikant reduzieren. Wie in den Studien mit Kindern konnten keine Nebenwirkungen beobachtet werden.
Bevor wir uns nun den Wirkungen der Xylooligosaccharide (XOS) zuwenden, möchte ich unbedingt noch auf ein weiteres präklinisches Ergebnis hinweisen, welches gerade für uns Patienten mit Reizdarm, MCAS, Histaminintoleranz, Fibromyalgie und Chronischem Erschöpfungssyndrom ein gewaltiges Potenzial bergen könnte: Xyloglucan verringert die Fähigkeit von Bakterien und Pilzen, sich in schützen "Biofilmen" einzumauern, um sich so vor Angriffen des Immunsystems und konkurrierender Mikroorganismen zu schützen (Piqué und Kollegen,2018). Biofilme sind ein bedeutender Faktor bei der weiteren Dysbiose der Darmflora ("Dysbiose-Marsch") und über die Monate und Jahre zunehmenden Beschwerden (von Rosenvinge und Kollegen,2013). Der Mechanismus hinter der Anti-Biofilm-Wirkung ist bisher noch ungeklärt, wurde aber in verschiedensten Kontexten bestätigt (so etwa auch bei Harnröhren-/Blasenentzündungen u.a.)
Beweise für die Wirksamkeit von Xylooligosacchariden (XOS)
Xylooligosaccharide sind, wie bereits weiter oben erläutert, Präbiotika. Im Gegensatz zu Probiotika, also potenziell lebensfähigen (Darm-)Bakterien, dienen Präbiotika deinen gesundheitsfördernden Darmbakterien als selektives Futter. Sie vermehren also selektiv probiotische Mikroorganismen, welche in der Konsequenz für die Darmgesundheit wichtige Stoffwechselprodukte erzeugen und andere potenziell schädliche Bakterien und Pilze in Schach halten. Auch der Einsatz von Probiotika hat seine Berechtigung beim Reizdarmsyndrom (und anderen Darmflora-assoziierten Erkrankungen). Im Gegensatz zur Laienmeinung siedeln sich diese Bakterien jedoch nicht dauerhaft im Darm an, sondern erzeugen ihre Effekte auf die Darmsymptome durch die Modulation des Immunsystems, welches auf die Präsenz der Keime reagiert. Obwohl sie sich indirekt auf die Dysbiose (=Fehlbesiedlung des Darmes) auswirken können (z.B. via vermehrte Schleimproduktion), klingen die klinischen Verbesserungen schnell ab, wenn man das entsprechende Produkt nicht mehr einnimmt. Präbiotika sind deshalb für mich nach der aktuellen Quellenlage deutlich besser geeignet, die Beschwerden vieler Erkrankungen nachhaltig zu lindern.
Die gastrointestinale Dysbiose ist eine der am besten etablierten Ursachen bei der Entstehung eines Reizdarmsyndroms (z.B. Wang und Kollegen,2019 für den Dickdarm und Saffouri und Kollegen,2019 für den Dünndarm). Diese mikrobielle Dysbiose ist charakterisiert durch einen Verlust an Artenvielfalt (Biodiversität) und die Dominanz gram-negativer Bakterien, welche zur Fermentation (=Gasbildung) neigen und in ihren Membranen proentzündliche Endotoxine tragen, welche bei Freisetzung die Darmwand reizen, die Darmbarriere durchdringen und das Immunsystem dauerhaft aktivieren können. Das Darmmilieu wird durch diese Dysbiose in einen proentzündlichen Zustand versetzt, beim Reizdarm gut dokumentiert durch lokale Entzündungsmarker (Ng und Kollegen,2018). Und wie beim "Abdichten" der Darmbarriere verbessern sich die Symptome des Reizdarmsyndroms, wenn wir diese Dysbiose beheben können (etwa El-Salhy und Kollegen,2019). Können wir zu diesem Zweck XOS einsetzen?
Auch diese Frage können wir getrost und uneingeschränkt mit "Ja" beantworten. Da Xylooligosaccharide bereits vor 40 Jahren eingeführt wurden, steht uns ein gewaltiger Datensatz (v.a. an Tiermodellen) zur Vefügung. So vermindern XOS die Dysbiose zuverlässig, vermehren probiotische Mikroorganismen, erhöhen die Produktion darmgesunder kurzkettiger Fettsäuren und vermindern zahlreiche Entzündungsparameter im Darm (z.B. Fei und Kollegen,2019). Doch auch am Menschen zeigten Xylooligosaccharide wünschenswerte Effekte. In einer Untersuchung an schwangeren Frauen mit ausgeprägter Verstopfung erhöhte sich die Stuhlfrequenz von 1x wöchentlich innerhalb weniger Wochen auf 1x täglich, ohne irgendwelche Nebenwirkungen (Tateyama und Kollegen,2005). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die XOS-Einnahme den pH-Wert des Stuhls senkt, Bifidobakterien und Laktobazillen fördert, mikrobielle Bösewichter wie verschiedene Closdridienarten reduziert und die Artenvielfalt erhöht (s. Okazaki und Kollegen,1990; Finegold und Kollegen,2014 usw.) Klingt nach einem wunderbaren Gesamtpaket, oder?
Doch bevor wir auch nur irgendeine Empfehlung aussprechen können, brauchen wir "SIE". Den ultimativen Test, an dem sich jedes Medikament messen lassen muss. Eine randomisierte, plazebo-kontrollierte Doppelblindstudie bei unserem spezifischem Hintergrund - dem Reizdarmsyndrom. Mag die wissenschaftliche Rationale hinter der Formulierung der Zusammensetzung noch so tragfähig sein. Was zählt sind Ergebnisse in RCTs und am besten Meta-Studien!
Die Gelsectan-Studie: Linderung des Reizdarms in 28 Tagen
Und ja, es gibt diese Studie! Tatsächlich handelt es sich um eine recht hochwertige randomisierte Doppelblindstudie im Crossover-Design, welche mit der wirklichen Formulierung und Dosierung von Gelsectan durchgeführt wurde. Das Crossover-Design hat einige Vorteile, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden. Schauen wir uns erst einmal die Methodik der Untersuchung an.
60 Personen mit einem Reizdarmsyndrom vom Typ Durchfall (RDS-D) wurden zufällig einer von zwei Gruppen zugeordnet. Die Interventionsgruppe erhielt 1 Kapsel Gelsectan vor dem Frühstück und vor dem Abendessen, die Kontrollgruppe Plazebo im selben Umfang. Nach 28 Tagen wurden die Interventionen gekreuzt, die gesamte Studie erfolgte dabei doppelblind. Alle Patienten hatten ein Reizdarmsyndrom nach ROM-III-Kriterien, ihr Durchschnittsalter lag bei 35 Jahren. Sie berichteten vor Beginn der Studie über fünf Stuhlgänge am Tag mit einem Bristol-Stool-Scale-Score von 6 (= "einzelne weiche Klümpchen mit unregelmäßigem Rand"). Ihre Bauchschmerzen waren moderat mit Trend zu inakzeptabel (3 auf einer 7-Punkt-Likert-Skala) und etwas schlimmer ausgeprägt ihre Blähungen (2,7). Als Remission wurde ein Fehlen von Durchfällen definiert (weniger oder gleich zwei Stuhlgänge pro Tag und ein BSS-Wert 3-4).
Im (ersten) Interventionsarm erreichten 87% dieses Remissionsziel und kein einziger Proband der Plazebogruppe. Nach der Kreuzung der Arme stieg die Responderquote jedoch von 0% auf 93% (nun mit Gelsectan), während sie in der ersten Gruppe absank, jedoch nicht bis zum Ausgangsniveau, so dass einige langfristige Effekte vermutet werden können. Diese wurden auch durch Follow-Up-Untersuchungen an den Tagen 86 und 116 bestätigt (keine Intervention mehr!) Die Raten der Betroffenen mit leicht inakzeptablen bis total inakzeptablen Bauchschmerzen sank von 67% auf 0% in der Gelsectan-Gruppe und von 83% auf 60% in der Plazebogruppe. Ähnlich beeindruckende Ergebnisse ließen sich bei der Linderung der Blähungen dokumentieren (von 73% auf 3%). Auch bei der Verbesserung der krankheitsbezogenen Lebensqualität dominierte Gelsectan die Plazebogruppe deutlich (Trifan et al.,2019).
Ein paar "seltsame" Sachsen stechen bei dieser Studie ins Auge. Schade finde ich, dass fast alle Studien zu in schließlich in Deutschland kommerziell-vermarkteten Wirkstoffen in Italien, Rumänien oder sonst irgendwo durchgeführt werden, was die Kommunikation deutlich erschwert. Nun ja, schieben wir das einfach mal auf die Kostenfrage. Deutlich unverständlicher ist mir allerdings, warum diese Untersuchungen fast nie die gebräuchlichsten Skalen verwenden (wie den IBS-SSS und andere). Wieso entscheidet man sich hier für eine Likert-Skala? Das erschwert den Vergleich mit anderen, bereits etablierten Wirkstoffen ungemein. Handwerklich eigentümlich finde ich, dass in dieser Cross-Over-Studie keine "Wash-Out-Periode" zum Einsatz kam, was eigentlich immer der Fall sein sollte. Ansonsten hat das Cross-Over-Design natürlich entscheidende Vorteile. Die Wissenschaftler haben ihre eigene Versuchswiederholung und sogar einen Intragruppenvergleich (jeder Interventionsproband ist sozusagen seine eigene Kontrollperson). Wünschenswert wären auch noch einige Laborparameter gewesen, um darauf schließen zu können, WAS diese beeindruckenden Ergebnisse zum Vorschein brachte. Vorschläge für die nächste klinische Studie: 16S-rRNA-Analyse des fäkalen Mikrobioms samt Dysbiose-Index, Biodiversität etc., Zonulin und Laktulose-Mannitol-Test zur Beurteilung der Funktion der Darmbarriere (oder gleich ein PEG500 ... man wird ja wohl noch träumen dürfen!)
Mein bisheriges Fazit zu Gelsectan gegen den Reizdarm
Fassen wir also einmal das bis hierhin recherchierte Material zusammen. Die wirksamen Bestandteile von Gelsectan haben sich in präklinischen Studien zur Verbesserung des Darmmilieus, Linderung von Entzündungen und Stärkung der Darmbarriere bewährt. Ebenfalls vielversprechend waren Interventionen mit den Einzelbestandteilen bei gesunden Menschen, Patienten mit anderen Erkrankungen (Diabetes, Adipositas etc.), akuten Durchfällen und Verstopfung. Eine erste klinische randomisierte Doppelblindstudie beim Reizdarmsyndrom mit der exakten Wirkstoffkombination von Gelsectan erzielte sogar nahezu atemberaubende Effekte. Dennoch komme ich nicht darum herum, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine EINZIGE Studie handelt, deren Autoren zum Teil mit Noventure assoziiert sind, welches wiederum ein ganz ähnliches Produkt vermarktet. Bei aller Euphorie kann man also nur darauf warten, dass Gelsectan oder seine Bestandteile sich in weiteren Untersuchungen verfeinerten Analysen stellen werden, so wie das für Arzneimittel eigentlich State of the Art sein sollte, und sich nicht auf dieser einen Studie ausruht und diese bis zum Geht-nicht-mehr ausschlachtet, so wie das einige Mitbewerber tun! Ich werde versuchen, die Studienautoren zu einem Interview zu überreden. Vielleicht kann man ja dann die eine oder andere Entscheidung besser nachvollziehen ...
Generell muss ich sagen, dass ich von Gelsectan nach dieser Recherche doch sehr angetan bin! Obwohl mich die Vermarktung doch erst einmal etwas skeptisch bis ablehnend werden ließ, kann die wissenschaftliche Datenlage doch einen Großteil der Statements untermauern:
- "wirkt innerhalb von Stunden" - wurde in Interventionsstudien bei Gastroenteritis belegt
- "schützt die Darmbarriere" - bspw. nachgewiesen durch EEW-Messung oder Protektion gegen LPS
- "baut die Darmflora aus" - in Studien Vermehrung von Bifidobakterien, Laktobazillen und Verminderung von spez. Clostridien
- "lindert die Beschwerden beim Reizdarm" - siehe Interventionsstudie RDS
- "für alle Subtypen geeignet" - regulierende Wirkung auf den Wassergehalt, positive Effekte bei Durchfällen UND Verstopfung
Viele Leser haben sich in den vergangenen Wochen mit ihren Erfahrungsberichten zu Gelsectan an mich gewandt. Und ein übergroßer Teil von ihnen hat sehr positive Erfahrungen mit dem neuen Medikament gesammelt. Ich bin auch weiterhin gespannt auf eure Rückmeldungen, damit ich alle Leser auf dem Laufenden halten kann! Zusammenfassend kann ich aufgrund der vorliegenden Daten und der bisher von euch übermittelten Erfahrungen Gelsectan nur für einen Versuch empfehlen. Dies gilt besonders, solltet ihr unter einer Form von PI-RDS, NZGS, lokaler Mastzellaktivierung oder auch Dünndarmfehlbesiedlung leiden. Das neue Medikament hat mich wirklich positiv überrascht und hebt sich positiv von vielen Mitbewerbern ab.
Noch einige Dinge, die du beachten solltest
Wie ist Gelsectan einzunehmen? Die Packungsbeilage empfiehlt eine Einnahme von 1-2 Kapseln vor dem Frühstück und noch einmal vor dem Abendbrot mit Flüssigkeit. Obwohl bisher keine Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen von Gelsectan bekannt sind, sollte vor der Einnahme, besonders wenn du unter einer chronischen Erkrankung leidest oder viele Medikamente einnimmst, ein Arzt konsultiert werden. Gelsectan wurde nicht an werdenden Müttern getestet.
Bei XOS handelt es sich um ein FODMAP. Eine Fermentation durch Bifidobakterien ist erwünscht, so dass es auch zur Gasbildung kommt. Bei besonders sensitiven Menschen mit Reizdarm kann dies zu Blähungen und Bauchschmerzen führen. Deshalb gilt für Gelsectan mein alter Ratschlag für Präbiotika: Lass es bitte langsam angehen! Besonders wenn du zu Blähungen und Bauchschmerzen neigst, die FODMAP-Diät dir besonders gut tut. Erhöhe die tägliche Dosis einfach über mehrere Wochen von 1 Kapsel auf 2 oder 3. Das hat für viele von euch da draußen bei Bimuno geklappt und das wird es auch bei Gelsectan!
Ich wünsche dir viel Erfolg!
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