Inhaltsverzeichnis
- Nachlese: Chronisches Erschöpfungssyndrom und graduelle Bewegungsprogramme
- Regelmäßige Kälteanwendungen lindern Erschöpfung und verbessern kognitive Leistung bei CFS/ME
- Warum wirkt Cryotherapie so gut bei CFS/ME und Long Covid?
- Erste Belege der Wirksamkeit von Cryotherapie auch bei Long Covid Syndrom
- Muss es wirklich immer die Stickstoff-Kältekammer (WBC) sein?
Nachlese: Graduelle Bewegungsprogramme sind effektiv und sicher für den Großteil der CFS-Betroffenen
Für den größten Teil der CFS-Patienten ist die Datenlage aber eindeutig: So zeigen Systematische Reviews und Metaanalysen, dass die graduelle Aktivierung mittels aerober (Walking, Schwimmen usw.) und anaerober (Gymnastik, Widerstandstraining) Reize unabhängig von den angewandten Diagnosekriterien die Erschöpfung von CFS-Betroffenen verbessert (siehe bspw. die Arbeiten um Dr. Lillebeth Larun - Larun et al.,2017, Larun et al.,2019 etc). Und konträr zur insbesondere auf Social-Media-Kanälen aggressiv vorgebrachten Behauptung, GET hätte für viele Betroffene des Chronischen Erschöpfungssyndroms negative gesundheitliche Auswirkungen, finden sich in der wissenschaftlichen Literatur hierauf keinerlei Hinweise (z.B. White & Etherington,2021). Und selbst was den (zu Recht) viel gescholtenen PACE Trial betrifft, halte ich es mit der Wiener Wissenschaftlerin Dr. Birgit Ludwig:
"Letztendlich ist die PACE-Studie aber die randomisiert-kontrollierte Studie mit den meisten Studienteilnehmer:innen mit longitudinalen Charakter bzw. Follow-up-Testungen über bis zu 8 Jahren und zeigt signifikante Verbesserungen in Fatigue und körperlicher Funktionsfähigkeit bei Therapie mit CBT und GET" (Ludwig et al.,2023).
Auch wenn die Datenlage bezüglich Long Covid aufgrund der relativen Neuartigkeit deutlich dünner gesät ist, spricht einiges dafür, dass die oben gezogenen Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit und Sicherheit von Bewegungsprogrammen auch für das Long Covid Syndrom zutreffend sind (Scurati et al.,2022; Teo & Goodwill,2022).
Bewegungstherapie/GET sind (noch) keine realistischen Optionen für dich?
Und jetzt die Pudelmützen auf und tief durchgeatmet, denn im folgenden Abschnitt beschäftigen wir uns mit den heilsamen Auswirkungen der Kältetherapie beim Chronic Fatigue Syndrome und Long Covid.
Regelmäßige Kälteanwendungen lindern Erschöpfung und verbessern kognitive Funktionen bei CFS ...
Teilnehmen durften CFS/ME-Betroffene, die ...
- die Fukuda-Kriterien erfüllten und zusätzlich ...
-
- mindestens sechs Monate unter moderater bis starker Erschöpfung litten (FIS >36)
- außerdem mindestens vier der folgenden Symptome regelmäßig zeigten:
-
- PEM (Verschlimmerung der Symptome nach Belastung)
- Kopfschmerzen
- Konzentrations-/Gedächtnisstörungen
- nicht erholsamer Schlaf
- Halsschmerzen/Halskratzen
- geschwollene Lymphknoten
- Gelenk-/Muskelschmerzen
- umfassend bezüglicher organischer Erkrankungen gescreent wurden, welche die Erschöpfung erklären könnten
Die Probanden besuchten dann zehnmal eine Stickstoff-Kältekammer (-120°C) über einen Zeitraum von vierzehn Tagen, wobei sich die Besuchszeit graduell von einer halben Minute auf zweieinhalb Minuten erhöhte. Jeweils direkt nach einer solchen Kälteanwendung absolvierten die Patienten ein 50 Minuten andauerndes Übungsprogramm aus statischen Dehn- und Atemübungen, welches durch einen Physiotherapeuten angeleitet wurde. Erfasst wurden neben vielen subjektiven Skalen (CFQ, FIS; FSS etc.), objektive Leistungen in neuropsychologischen Tests und auch die Herzratenvariabilität als Marker für das Autonome Nervensystem via EKG. 18 gesunde Probanden mit vergleichbarem Ausgangsprofil bildeten die Kontrollgruppe.
Auswirkungen der Kältekammer auf die Erschöpfungsymptome
- Der Punktwert des Chalder Fatigue Questionnaire (CFQ) verminderte sich von 22,1 auf 6,6 (p < 0.0001).
- Das Ergebnis auf der Fatigue Impact Scale (FIS) sank von 54,5 auf 39,2 (p = 0.002).
Auswirkungen der Kältekammer auf die kognitive Leistungsfähigkeit
Auswirkungen der Kältekammer auf das Herz-Kreislauf-System bzw. Autonome Nervensystem
Die Marker zur Abschätzung der Funktion des Autonomen bzw. Vegetativen Nervensystems legen außerdem harmonisierende Effekte der Cryotherapie beim Chronischen Erschöpfungssyndrom nahe, welches maßgeblich durch eine Dysregulation von Sympathikus und Parasympathikus bzw. deren veränderter Interpretation in spezifischen Hirnarealen charakterisiert ist (z.B. Freeman & Komaroff,1997; Newton et al.,2007; Vuong et al.,2020 usw).
Ein frühes Fazit: Kältetherapie verbessert CFS-Beschwerden (und zwar nachhaltig)!
Halten wir kurz fest: Eine Serie von gerade einmal zehn kurzen Besuchen in einer Kältekammer führte zu signifikanten Verbesserungen der subjektiv empfundenen Erschöpfung und Müdigkeit von CFS-Patienten sowie zu einer moderaten bis starken Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit.
Und ich kann noch einen weiteren vielversprechenden Befund hinzufügen: Eine Follow-Up-Untersuchung zeigte, dass alle positiven Effekte (Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems, verminderte Erschöpfung/Müdigkeit, verbesserte Gedächtnis- und Konzentrationsleistung sowie harmonisiertes Autonomes Nervensystem) auch vier Wochen nach Beendigung der Intervention nachweisbar waren (Kujawski et al.,2023). Es handelt sich also tatsächlich um langfristige und nachhaltige Behandlungserfolge.
Warum wirkt Kältetherapie bei CFS/ME und Long Covid?
- Kälte reguliert das Autonome bzw. Vegetative Nervensystem.
- Kälte vermindert metabolischen und kardiovaskulären Stress.
- Kälte vermindert die Auswirkungen der Laktatakkumulation.
- Kälte schützt vor Oxidativem und Nitrosativem Stress.
- Kälte verbessert die Leistung der Mitochondrien.
- Kälte lindert Entzündungen.
Du solltest an dieser Stelle unbedingt realisieren, dass alle genannten Mechanismen eng mit der Pathophysiologie sowohl des Chronischen Erschöpfungssyndroms als auch Long Covids verzahnt sind. So finden sich bei CFS/ME neben der bereits mehrfach angesprochenen, oft durch einen post-viralen Prozess angestoßenen, Dysregulation des Autonomen Nervensystems auch Mitochondriopathien (vgl. bspw. Morris & Maes,2014), Oxidativer und Nitrosativer Stress (Kennedy et al.,2005) oder auch (Mikro-)Entzündungen (Kormaroff,2017).
Kälte ist wie Sport - nur ohne PEM!
- Beide induzieren die Expression von Myokinen. Myokine sind Botenstoffe, die dein Körper bei intensiven Muskelbeanspruchungen ausschüttet, um Entzündungen zu begrenzen und die Immunantwort zu regulieren.
- Die Auswirkungen von Kälte und Sport auf das Autonome Nervensystem und das Hormonsystem sind vergleichbar.
- Beide Interventionen haben einen optimierenden Trainingseffekt für das Herz-Kreislauf-System.
Aber es gibt einen bedeutenden Unterschied: Während viele CFS/ME-Patienten mit starker Erschöpfung Bewegungsprogramme aufgrund von PEM abbrechen müssen, scheinen diese die kurzen Kälteanwendungen gut zu tolerieren. In einer vorausgegangenen Untersuchung des gleichen Teams von Wissenschaftlern hatte annähernd die Hälfte der Probanden mit einem Chronischen Erschöpfungssyndrom ein körperliches Trainingsprogramm vorzeitig abgebrochen (Kujawski et al.,2020). Als mit Abstand häufigster Grund für diese Entscheidung wurde PEM angegeben.
Extreme Kälte scheint also die Vorteile der körperlichen Aktivität ernten zu können, ohne dabei zu stark in den gestörten Regulationsmechanismus des Körpers CFS-Erkrankter einzugreifen.
Kälte könnte Todesfälle verhindern!
Positive Effekte der Kältetherapie auch bei Long Covid dokumentiert
Muss es unbedingt die Stickstoff-Kältekammer sein?
Wer meine Arbeit schon länger verfolgt, weiß aber natürlich, dass ich auch ausgebildeter Kneipp-Therapeut bin und außerdem eine ausgeprägte Neigung zu günstigen Low-Tech-Lösungen habe. Ich selbst präferiere deshalb seit vielen Jahren das Eisbaden bzw. Winterschwimmen, Schneeabreibungen usw. Wissenschaftliche Reviews und Metaanalysen belegen, dass gerade die kalten Tauchbäder vergleichbar positive Effekte entfalten wie die Kältekammern (vgl. Esperland et al.,2022 für eine Übersicht). Da Wasser Kälte etwa 100mal stärker leitet als Luft, sind deutlich weniger extreme Temperaturen notwendig, um die Haut- und Körperkerntemperatur entsprechend abzusenken.
Als Therapeut liegt es mir aber ganz besonders am Herzen, die Kältetherapie insbesondere für Patienten mit chronischen Erkrankungen so sicher wie möglich zu gestalten. Ist also keine Kältekammer verfügbar, die Anfahrt zu anstrengend oder die Kosten zu hoch, solltest du unbedingt folgende Ratschläge beachten, um dich an regelmäßige Kälteanwendungen heranzutasten:
-
Graduelles Vorgehen. Niemand, der zum allerersten Mal im Leben ein Fitnessstudio betritt, würde auf die Idee kommen, einen Satz Kniebeugen mit
150kg zu versuchen. Interessanterweise durfte ich aber bereits mehrfach Menschen kennenlernen, die ohne jegliche vorherige Erfahrung im eisbedeckten See badeten. Gerade als Patient mit CFS,
MCAS etc. muss so ein Vorgehen nahezu unweigerlich zur Katastrophe führen. Arbeite dich stattdessen vorsichtig an die Kältetherapie heran und entwickle ein Gefühl für die Stressreaktion
deines Körpers. So könnte eine sinnvolle Progression aussehen:
- Kalte Teilbäder oder kalte Güsse ("brunnenkalt", ca. 15°C)
- Ganzkörpergüsse oder kalte Duschen (zunehmend in der Dauer, bis zu 5 Minuten täglich)
- Kaltluftkammer (nicht verwechseln mit der Stickstoff-Version), Kaltes Vollbad, Sauna-Tauchbad
- Stickstoff-Kältekammer, Tauchbad (kälter als 15°C - kann durch große Eiswürfel in der heimischen Badewanne improvisiert werden)
- Immer einen Helfer zur Hand haben. Für Patienten mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom gilt aufgrund einer gesteigerten Reaktivität des ANS und orthostatischer Intoleranz ganz besonders, dass ein Helfer in unmittelbarer Nähe sein sollte, um die Sicherheit im Wasser zu gewährleisten. Ehepartner, Mitbewohner oder beste Freunde übernehmen diese Rolle gern und können im Notfall eingreifen.
- Umgebung sicher gestalten. Die heimische Badewanne oder eine umfunktionierte Regentonne sind dem verlassenen Natursee oder gar strömenden Gewässern vorzuziehen. Und selbst in heimischen Gefilden können kleine Ergänzungen die Kältetherapie noch sicherer machen (z.B. Fußbänke, die das zu weite Hineinrutschen in die Wanne verhindern, Funkalarmsysteme usw.)
Keineswegs möchte ich die Gefahren der Kältetherapie übertreiben oder dir unnötig Angst machen. Was mir aber große Sorgen bereitet, ist der fehlende Respekt mancher meiner Zeitgenossen gegenüber kalten Temperaturen und insbesondere kaltem Wasser. Ähnlich wie für die Bewegung, das Fasten und viele andere mächtige Interventionen gilt: Du solltest immer die Kontrolle über das Medium bewahren. Es handelt sich "nur" um Werkzeuge und was passiert, wenn du beim nächsten Mal den Hammer oder die Kettensäge führen lässt, kannst du dir sicher ausmalen.
Beachtest du aber diese Grundregeln und gehst bedacht vor, ist eine DIY-Kältetherapie zur (unterstützenden) Therapie von CFS/ME und Long Covid durchaus sicher und natürlich auch effektiv in den eigenen vier Wänden durchführbar!
Im nächsten Artikel mit dem Schwerpunkt CFS/ME werden wir uns dann mit der richtigen Ernährungstherapie der Erkrankung auseinandersetzen (auf wissenschaftlicher Basis natürlich).
Bis dahin wünsche ich dir alles Liebe und maximale Therapieerfolge
dein Thomas
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Abbildungsverzeichnis
Abb1
Kujawski S, Słomko J, Godlewska BR, Cudnoch-Jędrzejewska A, Murovska M, Newton JL, Sokołowski Ł, Zalewski P. Combination of whole body cryotherapy with static stretching exercises reduces fatigue and improves functioning of the autonomic nervous system in Chronic Fatigue Syndrome. J Transl Med. 2022 Jun 17;20(1):273. doi: 10.1186/s12967-022-03460-1. PMID: 35715857; PMCID: PMC9204866.
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