"Let´s talk about sex, baby. Let´s talk about you and me." Na, liebe Alltagsheldinnen und -helden, habt ihr auch gleich die passende Melodie dieses Hits der R&B-Band Salt ´n´ Pepa im Ohr?
Der Umgang mit der Sexualität in unseren Medien, der Gesellschaft und dem eigenen privaten Umfeld ist schon eine seltsame und oft auch widersprüchliche Angelegenheit. Sex und Erotik sind aus unserer Werbung, den erfolgreichsten Serien und Kinofilmen und natürlich dem Internet überhaupt nicht mehr wegzudenken. Besonders jene "digital natives", welche die Chance(?) hatten und haben, gemeinsam mit dem Internet groß zu werden (und dabei hoffentlich auch charakterlich zu reifen), gehen oberflächlich betrachtet viel liberaler mit dieser omnipräsenten Thematik um, als vorherige Generationen. So steigt die Prävalenz der frühen Sexualkontakte (vor dem 13. bzw. 15. Lebensjahr) in den westlichen Gesellschaften kontinuierlich an (Lindberg et al.,2019; Gambadauro et al., 2018). Der freie Zugang zum Internet in jungen Jahren korreliert dabei mit früheren Zeitpunkten des ersten Oral- und Geschlechtsverkehrs (Kraus & Russell, 2008). Eine Erhebung an 6.500 polnischen Studenten ergab, dass annähernd 80% der Befragten über Erfahrungen mit (Internet-)Pornographie verfügten (Owulit & Rzymski, 2019). Dabei lag das durchschnittliche Alter für den ersten Konsum pornographischen Materials bei 14 Jahren. Der tägliche Zugriff auf Pornoseiten wurde von über 10%, ein selbst als "Sucht" oder "Abhängigkeit" eingeschätztes Verhalten von immerhin 15% der Studenten berichtet.
Falls du nun glaubst, dass es sich dabei um ein rein männliches Phänomen handelt, dann sollten dich erhobene Daten aus Dänemark vom Gegenteil überzeugen. Die Frage nach dem Konsum von Pornos in den vergangenen sechs Monaten bejahten zu erwartende 92% der teilnehmenden Männer, aber auch immerhin 60% der Frauen (Hald, 2006).
Trotz des Überschusses und der verbreiteten Nutzung angedeuteten und expliziten sexuellen Materials, wächst gerade mit diesem Angebot die sexuelle Unsicherheit (siehe z.B. Peter & Valkenburg, 2008). Letztere meint nicht gefestigte Einstellungen, Überzeugungen und Werte bezüglich der eigenen gelebten Sexualität.
Als ich während des Studiums und später in psychotherapeutischen Weiterbildungen immer wieder intensiv mit dem Thema Sexualität und mögliche damit verbundene Konflikte konfrontiert wurde, verstand ich damals noch nicht wirklich, warum Freud und seine Schüler, etwa der vom Orgasmus wahrlich besessene Wilhelm Reich, darum so ein riesiges Theater veranstalteten. Nun muss ich zugeben, dass ich persönlich, was die eigene Sexualität angeht, recht liberal erzogen wurde. So kann ich mich noch gut erinnern, dass ich bereits kurz nach dem Schuleingang im Brustton des absoluten Wissens vor meinen staunenden Mitschülern über den Akt des Geschlechtsverkehrs und die daraus resultierende Schwangerschaft dozierte. In der heutigen Zeit vorschulischer sexualpädagogischer Programme mag das nichts besonderes mehr sein, doch zu Zeiten des Mauerfalls erntete ich damals nur schamhaftes Kichern und ungläubige Blicke. Durch diesen freien Umgang war Sexualität für mich nie mit irgendwelchen Ängsten, Zwängen oder gar Scham verbunden. Sex war für mich immer etwas, was jeder Mensch gerne tut und zwar auf ganz unterschiedliche Art und Weise, die andere nicht zu beurteilen haben (außer natürlich es geschieht gegen den Willen einer Person).
Später dann, als ich selbst psychotherapeutisch mit Klienten arbeitete, verstand ich plötzlich, warum schon die Gründerväter der Psychoanalyse so auf dieses Thema fokussiert waren. Von der pensionierten Musiklehrerin, über den Handwerker mit Depressionen, bis hin zur jungen Rollstuhlfahrerin wollten an irgendeinem Punkt in der Therapie plötzlich alle mit mir über Sex reden. Sexualität ist eben ein zentrales Thema des Lebens, zugleich evolutionäre Aufgabe, aber auch ein Zeichen von Intimität, Verbundenheit, Zärtlichkeit und Liebe. Und bei all diesen abstrakten oder gar philosophischen Erklärungsversuchen darf keinesfalls vergessen werden: Sex macht Spaß und wirkt sich positiv auf beispielsweise unser Selbstwertgefühl, das Wohlbefinden und tatsächlich auch biologische Prozesse aus. So steigt beispielsweise die Schmerztoleranzgrenze und die Wahrnehmungsschwelle für Schmerzreize infolge weiblicher sexueller Stimulation und anschließendem Orgasmus um 75% bzw. 100% (Whipple & Komisaruk,1985). Nehmen wir Menschen durch soziale Isolation, Alter oder Krankheit ihre Sexualität, dann sinkt unweigerlich ihre Lebensqualität (Flynn et al.,2016).
Sexuelle Unsicherheit entsteht sehr häufig durch ein via Medienkonsum verzerrtes Bild von Erotik und Sexualität (s. etwa Aubrey, 2008). Die Bilder und Narrative der immer willigen, immer sexy herausgeputzten Damen und der immer fähigen, leistungsstarken und ausdauernden Männer haben sich in unsere Köpfe eingebrannt. Perfekt aufgeräumte Schlafzimmer, ordentlich gemachte und gerade frisch bezogene Betten, keine Kinder, die plötzlich nachts auf dem Weg zur Toilette an der elterlichen Schlafzimmertür vorbeihuschen. Trainierte Hollywood-Körper, die sich nach einem anstrengenden Tag voller Abenteuer stundenlang leidenschaftlich paaren können und dabei noch nicht einmal schwitzen, schnaufen oder sonst eine allzu menschliche Reaktion zeigen.
Die Realität sieht dann wohl doch etwas anders aus. Vielleicht sollte der ein oder andere Blockbuster seinen Zuschauern mal ein paar unangenehme Wahrheiten auftischen? Wie wäre es zum Beispiel damit, dass der Actionheld in vielen Szenen "zu schnell schießt" oder gar "Ladehemmungen hat"? Immerhin leiden 30% der jungen Männer in der Schweiz an einer Erektilen Dysfunktion und 11% an einer vorzeitigen Ejakulation (Mialon, 2013). Oder damit, dass sich unsere beiden leidenschaftlichen Hauptfiguren nach einem anstrengenden Arbeitstag vielleicht gar nicht zu einem gemeinsamen Schäferstündchen aufraffen können und einfach nebeneinander auf dem Sofa einschlafen? In einer US-amerikanischen Untersuchung erreichten junge Paare mit einer Kombination ungünstiger Faktoren (Schichtarbeit, Frau mit höherer Bildung - Uniabschluss, Mann ohne regelmäßiges körperliches Training) durchschnittlich gerade einmal 0,7 Geschlechtsakte pro Woche und dies, obwohl die Paare gerade versuchten, Nachwuchs zu zeugen (Gaskin et al.,2019).
Erschwert wird der Umgang mit der eigenen Sexualität aber nicht nur dadurch, dass wir uns von diesen Narrativen beeinflussen lassen, die wir nicht ausreichend hinterfragen, sondern vor allem auch durch den Umstand, dass wir trotz der scheinbaren Enttabuisierung in der Gesellschaft (welche eigentlich keine ist) nicht wirklich offen über dieses Thema sprechen. Sicher, heute provoziert man kein nervöses Kichern und erst recht keine aufrichtige Empörung mehr, wenn man befreundeten Paaren eine pointierte Anekdote über den riskanten Quickie im Aufzug oder den letzten Besuch im Swingerclub erzählt. Doch habt ihr schon einmal mitbekommen, dass etwa Männer über ihre Schwierigkeiten mit der Erektilen Dysfunktion sprechen? Obige Studie bezifferte letztere auf 30% der jungen Männer, aber bereits im mittleren Alter (45 Jahre) liegt diese Quote schon bei 48%. Denkt einmal an eure männlichen Freunde und Bekannten. Könnt ihr euch vorstellen, dass vielleicht jeder dritte oder gar zweite von dieser sexuellen Dysfunktion betroffen sein könnte? Oder aber jede vierte eurer Freundinnen unter Schmerzen beim Geschlechtsverkehr bzw. jede dritte unter Veränderungen (meist starker Verminderung) des sexuellen Verlangens (Safarinejad, 2006)? Wenn nein, warum glaubt ihr das nicht? Die Beantwortung dieser Frage verrät viel über unseren Umgang mit dem Thema Sexualität ...
Solltest du über einige der bis hierhin zitierten Zahlen und Fakten überrascht oder gar schockiert gewesen sein, so verdeutlicht dies nur, dass wir eben nicht in dieser ultraliberalen und sexuell aufgeklärten Welt leben, als welche diese immer dargestellt wird. Im Normalfall sprechen Menschen nur über die positiven Seiten ihrer Sexualität, genauso wie Depressionen, Versagen, schlechte Laune, Unlust, Faulheit, Scheitern, Hässlichkeit, charakterliche Schwächen, Traurigkeit etc. keinen Platz mehr auf den Selbstvermarktungsbasaren der Sozialen Netzwerke haben, obwohl auch diese Eigenschaften und Attribute nun einmal unweigerlich zu unserer Welt und so schmerzlich dies vielleicht für den einen oder die andere klingen mag, auch in bestimmten Ausmaßen zu jedem von uns selbst gehören.
Genau diesen problematischen Kreislauf aus falschen Vorstellungen, Tabuisierung und mangelnder Kommunikation beobachte ich auch sehr oft bei meinen Patienten mit chronischen Darmerkrankungen, welche aufgrund ihrer Beschwerden häufig über weniger Sexualkontakte und vermindertes sexuelles Verlangen berichten. Viele vermuten daraufhin, ihr Partner sei wahrscheinlich sexuell unzufrieden, ohne dies jedoch konkret zu erfragen oder sogar sexualtherapeutische "Gegenmaßnahmen" zu ergreifen. Gerade diese Kommunikationsschwäche kann zu einer echten Belastungsprobe für eine sonst tragfähige Beziehung werden. Im folgenden Abschnitt möchte ich die Bedeutung sexueller Funktionsstörungen und anderer sexueller Probleme im Rahmen der prototypischen chronischen Darmerkrankungen Reizdarmsyndrom und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) - Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und einige weniger verbreitete Sonderformen - beleuchten. Auch auf die Frage der von den Partnern eingeschätzten sexuellen Zufriedenheit werden wir dabei zu sprechen kommen ...
Reizdarmsyndrom, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und ein erfülltes Sexleben, wo liegt eigentlich das Problem?
Um ehrlich zu sein, gibt es nicht das Problem beim Ausleben der eigenen Sexualität mit einer Darmerkrankung. Wie auch bei gesunden Menschen sind die Faktoren, die daran beteiligt sind, sehr individuell. So kann natürlich eine unbefangene Frau mit einer CED, welche nur wenig Scham empfindet und offen mit ihrer Erkrankung, dem eigenen Körper und eben ihrer weiblichen Sexualität umgeht (Ja, diese Betroffenen gibt es tatsächlich! Auch unter uns Darmerkrankten.) ein deutlich erfüllteres Sexualleben haben, als ihre körperlich gesunde, aber von Zwängen, anerzogenen Moralvorstellungen und falschen Erwartungen getriebene beste Freundin.
Dennoch lassen sich die häufig in diesem Kontext auftretenden Probleme in mehrere Kategorien einordnen. Zum einen erhöhen chronische Darmerkrankungen das Risiko für das Auftreten sexueller Funktionsstörungen. Weiterhin tragen mit den Erkrankungen und ihrer Bewältigung assoziierte Denkmuster, Copingstile und Persönlichkeitseigenschaften, zum Beispiel Scham, negatives Körperschema etc., zu einem erschwerten Umgang mit der eigenen Sexualität bei. Schließlich resultieren interpersonale Konflikte, vor allem natürlich mit dem Partner, aus mangelnder Kommunikation.
Darmerkrankungen sind ein Risikofaktor für die Entstehung verschiedener sexueller Funktionsstörungen
Das aus meiner Sicht mit Abstand größte Problem ist das mangelnde Wissen über den Zusammenhang von sexuellen Störungen und den chronischen Darmerkrankungen. Obwohl die Diagnose einer CED oder eines Reizdarmsyndroms das Risiko für zahlreiche sexuelle Funktionsstörungen teils drastisch erhöht (und zwar für Männlein und Weiblein gleichermaßen - nur die Störungsbilder unterscheiden sich natürlich!) und dadurch ihr Auftreten unter den Betroffenen eben auch deutlich gehäuft ist, wird dieses Thema von den behandelnden Ärzten kaum oder gar nicht besprochen oder wenigstens angeschnitten, um Gesprächsbereitschaft auch in diese Richtung zu signalisieren.
Lassen wir hier noch einmal einige erschreckende Zahlen und Daten sprechen:
- Die Inzidenz der Erektilen Dysfunktion liegt bei Männern unter 50 mit einem Reizdarmsyndrom dreimal(!) höher, als jene gesunder Vergleichspersonen (bitte die teils hohen Quoten bereits in der Gesamtbevölkerung beachten!) (Chao et al.,2013)
- Das Erkrankungsrisiko stieg mit der Diagnose Reizdarmsyndrom um den Faktor 2,12 für die organische Erektile Dysfunktion und um den Faktor 2,38 für die psychogene Erektile Dysfunktion (Hsu et al.,2015)
- In einer Studie aus den USA litten sage und schreibe 94% der befragten Männer mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung an einer Erektilen Dysfunktion und 34% an einer globalen sexuellen Dysfunktion (Schmidt et al.,2019).
- Fast zwei von drei vom Reizdarmsyndrom betroffene Männer erfüllen die Diagnosekriterien für das Vorliegen des vorzeitigen Samenergusses und überschreiten damit die erhobenen Werte der Gesamtbevölkerung um mindestens den Faktor 3 (Pour et al.,2014).
- Die Prävalenz sexueller Funktionsstörungen betrug bei Frauen mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung 54%, Frauen mit einem Reizdarmsyndrom 78% und gesunden Frauen als Vergleichsgruppe 28% (Riviere et al.,2017).
- 42% der Reizdarmpatientinnen berichteten über Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs (0% der Vergleichsgruppe) (Whorwell et al.,1985).
Bei fast allen diesen Befunden muss beachtet werden, dass die Prävalenzen und abgeschätzten Risiken bereits oft um weitere Drittvariablen bereinigt wurden. Natürlich spielen bei sexuellen Funktionsstörungen ansonsten auch die bei den chronischen Darmerkrankungen häufig vorhandenen Komorbiditäten wie Angststörungen oder depressive Verstimmungen eine bedeutende Rolle. Eine interessante Fußnote ist, dass von Darmerkrankungen betroffene Frauen und Männer die Gründe für die sexuellen Funktionsstörungen und verminderte sexuelle Lust bzw. Aktivität sehr unterschiedlich einschätzen. Patientinnen suchen diese eher in krankheitsbezogenen Symptomen und Störungen wie Bauchschmerzen oder Inkontinenz, während Männer diese eher durch psychische Faktoren wie Ängste und Depressionen vermittelt sehen.
Allein die gewaltige Prävalenz sexueller Probleme bei Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder dem Reizdarmsyndrom spricht für eine Thematisierung dieser in den ärztlichen Sprechstunden. Keine Patientin und kein Betroffener sollte sich mit diesen Beschwerden allein gelassen fühlen und muss bei Bedarf schnell und unkompliziert mit entsprechenden Medikamenten, einer Psychotherapie bzw. Paartherapie versorgt werden, bevor sich die sexuellen Probleme negativ auf die individuelle Lebensqualität oder jene der Partnerschaft auswirken!
Scham und ein gestörtes Körper-Selbstbild tragen im Rahmen einer Darmerkrankung zu einer unerfüllten Sexualität bei
Verschiedene Studien zeigen, dass drei von vier Patienten mit Morbus Crohn und zwei von drei Patienten mit Colitis ulcerosa über ein gestörtes Selbstbild ihres Körpers ("body image") verfügen und dass diese schlechtere Einschätzung der Ästhetik und eigenen sexuellen Attraktivität sich auf das Sexualverhalten auswirkt (Jedel et al.,2016). Auch Männer sind von dieser ungünstigen Körperwahrnehmung betroffen. Jeder zweite Mann mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung hadert mit seinem Körper-Selbstbild.
Auch Betroffene des Reizdarmsyndroms berichten signifikant niedrigere Einschätzungen ihres Körper-Selbstbildes als gesunde Vergleichspersonen (Sherwin et al.,2017). Interessanterweise weichen diese Einschätzungen der eigenen Attraktivität durch übergewichtige Reizdarmbetroffene kaum von jenen durch normalgewichtige Patienten ab. Das Reizdarmsyndrom ist also die erheblichere Variable für die Konstruktion des Körperschemas, obwohl diese "Eigenschaft" nun einmal schwerlich für andere von außen ersichtlich ist.
Ein deutlicher Unterschied findet sich jedoch unter den Geschlechtern: Obwohl sowohl Männer als auch Frauen mit der Darmerkrankung ein herabgesetztes Körper-Selbstbild haben, ist dieses Phänomen bei Frauen mit dem Reizdarmsyndrom deutlich ausgeprägter. Besonders spannend in diesem Kontext erscheint der Fakt, dass normalgewichtige Frauen mit dem Reizdarmsyndrom über zahlreiche Erhebungen hinweg die niedrigste Lebensqualität und eine eingeschränkte sexuelle Aktivität berichten. Ich kenne dieses Phänomen von meinen Klientinnen. Besonders junge Frauen, welche nahezu perfekt dem westlichen Schönheitsideal entsprechen, tun sich besonders schwer bei der Akzeptanz ihrer Diagnose und der Bewältigung der Erkrankung. Zahlreiche Studien bezeugen inzwischen, dass die Annahme typischer weiblicher Rollenbilder die empfundenen Auswirkungen der Erkrankung verschlimmern (z.B. Kim & Kim,2018). So sind Frauen eher der Ansicht, dass Körperfunktionen absolut privat zu sein haben. Sie sorgen sich auch deutlich mehr darüber, die Kontrolle über eine Körperfunktion verlieren zu können. Besonders stark ist diese Furch in Zusammenhang mit Durchfall ausgeprägt. Es könnte also durchaus sein, dass gerade jene Frauen, die dem westlichen Ideal der Weiblichkeit im Äußeren und Inneren am ehesten entsprechen, am meisten von Ängsten und Scham getrieben sind, wenn dieses Rollenklischee durch z.B. eine nicht erwünschte Körperfunktion (Blähungen, Durchfall) in Gefahr gerät.
Das negative Körper-Selbstbild im Rahmen einer Darmerkrankung wird stark durch krankheitsbezogene Überzeugungen und Einstellungen determiniert. Selbst korreliert es positiv mit dem Selbstvertrauen während Intimität und sexuellen Handlungen, was wiederum zu einer verminderten sexuellen Frequenz und einem eingeschränkten Verlangen nach Sexualkontakten führt (Knowles et al.,2013). So erhalten wir schließlich wenigstens etwas Aufklärung darüber, warum Patienten mit dem Reizdarmsyndrom (vor allem vom Verstopfungstyp) Sex eher vermeiden als gesunde Vergleichspersonen (Ballou et al.,2019), oder warum Darmerkrankte generell ein vermindertes sexuelles Verlangen und auch reduzierte Aktivität berichten (Riviere et al.,2017).
Die Darmpatienten selbst scheinen diese eher ungünstigen Aspekte hinsichtlich ihrer Sexualität nicht weiter zu stören. Einvernehmlich berichten die Untersuchungen eine normale Beziehungs- und sexuelle Zufriedenheit der Betroffenen trotz signifikant selteneren Geschlechtsverkehrs. Die Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen schneiden bezüglich der Beziehungsqualität sogar etwas besser ab, als Patienten mit dem Reizdarmsyndrom und können sich besser auf tiefe Kontakte und die Familienplanung einlassen (Bengtsson et al.,2013), was wiederum mit den bisher erhobenen Persönlichkeitsprofilen korreliert (Patienten mit RDS sind im Durchschnitt um einiges neurotischer) (Tkalcic et al.,2010).
Kommunikation, Sex, Partnerzufriedenheit und Darmerkrankungen
Lasst uns das bis hier Gelernte noch einmal kurz rekapitulieren:
- Patienten mit chronischen Darmerkrankungen haben deutlich häufiger sexuelle Funktionsstörungen.
- Zusätzlich verfügen sie über ein gestörtes Körper-Selbstbild mit vermindertem Selbstvertrauen bei Intimität und sexuellen Handlungen.
- Sowohl ihr sexuelles Verlangen, als auch ihre tatsächliche sexuelle Aktivität sind vermindert.
- Studien zeigen, dass Betroffene eher geneigt sind, sexuelle Kontakte ganz zu vermeiden.
Klingt nach einer absoluten Horrorvorstellung für jeden gesunden jungen Partner, oder?
Das Sex-Reizdarm-CED-Paradoxon
Das Überraschende: Trotz all dieser, teils wirklich erschreckenden, Befunde sind die Partner der Betroffenen nicht unzufriedener als jene mit gesunden besseren Hälften! Weder sexuell noch global beziehungstechnisch. Wer hätte das nach all den Hiobsbotschaften jetzt noch erwartet?
In einer Untersuchung zur Belastung von Partnern Reizdarmerkrankter konnte kein signifikanter Unterschied zwischen der Beziehungszufriedenheit und sexuellen Zufriedenheit der Reizdarmpartner zu der gesunder Paare festgestellt werden (Wong et al.,2013). Beide Variablen waren aber invers mit dem Schweregrad der Erkrankung assoziiert.
Als die Partner der Patienten gefragt wurden, wie oft das Reizdarmsyndrom mit ihren sexuellen Interessen kollidiere, antworteten entgegen dem Endresultat immerhin beachtliche 30% mit "ziemlich oft" oder "immer". Diese Antworten waren mit dem Bedenken assoziiert, der Betroffene könnte seine Beschwerden "nur vorschieben", um Sex mit dem Partner zu vermeiden. Diese empfundene sexuelle Zurückweisung hatte dann auch ungünstige Auswirkungen auch auf die Beziehungszufriedenheit. Jene Partner erzielten höhere Werte bei der Frage, wie oft sie daran denken, was geschehen wäre, wenn sie die Beziehung nie begonnen hätten.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung war, dass jene Partner, welche der Aussage "Das Reizdarmsyndrom ist eine wirkliche Erkrankung mit organischen Ursachen" zustimmten, die Betroffenen deutlich stärker bei der Bewältigung der Probleme unterstützten und vor allem deren Handlungen innerhalb der Beziehung der Erkrankung zuschrieben (siehe im Gegensatz die obige These der vermuteten sexuellen Zurückweisung).
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen sehr schön, wie wichtig Information und Kommunikation im Rahmen chronischer Darmerkrankungen sind, um eine gesunde, langfristige und qualitativ-hochwertige Beziehung zu führen. Zum einen ist es notwendig, dass der Partner genug über die organischen Ursachen und Pathomechanismen der Erkrankung weiß. Dies ist natürlich besonders beim immer noch häufig stigmatisierten Reizdarmsyndrom der Fall. Also lasst eure Lebensgefährtinnen und -gefährten ausführlich meinen Blog schmökern, oder meine Videos schauen! :) Sie werden dann euer Verhalten und vielleicht auch die ein oder andere Enttäuschung oder Zurückweisung besser wegstecken können, indem sie diese eher der Krankheitslast zuschreiben und sie nicht mehr persönlich nehmen. Andererseits ist natürlich Kommunikation das Gebot der Stunde. Erklärt euren Partnern, was euch bewegt, warum ihr euch schämt, wie ihr euren Körper erlebt und was eure Ängste im Zusammenhang mit Intimität und Sexualität sind.
Zum Abschluss noch ein Lichtblick
Obwohl das Auftreten sexueller Funktionsstörungen unter den Patienten chronischer Darmerkrankungen stark verbreitet ist, lassen einige Studien tatsächlich einen wirklichen Hoffnungsschimmer auch in dieser Hinsicht zu. Denn es ist mitnichten davon auszugehen, dass etwa das Vorliegen eines Reizdarmsyndroms die Entstehung einer Erektilen Dysfunktion oder eines sexuellen Schmerzsyndroms begünstigt und diese beiden Erkrankungen dann unabhängig voneinander bestehen müssen. Ganz im Gegenteil! Verbessern wir unsere Darmgesundheit und lindern wir nachhaltig die Symptome, dann bessern sich auch die sexuellen Funktionsstörungen, oder sie verschwinden ganz (Eugenio et al.,2012; Hahn et al.,1997).
In meinem ausführlichen Artikel über die Möglichkeiten der Heilung des Reizdarmsyndroms präsentiere ich mehrere Studien zur Stuhltransplantation und zu den Medikamenten DNCG und Glutamin, welche eindrucksvoll eine massive Linderung (von Schweregrad "schwer" hin zu "mild"), Verbesserungen des Severity-Scores um >175 Pkt. oder sogar eine induzierte Remission veranschaulichen. Eine deutliche Verbesserung der Darmgesundheit und damit auch der sexuellen Beschwerden ist also auf jeden Fall möglich, falls letztere nicht durch andere Drittvariablen begünstigt oder verursacht werden!
In kommenden Artikeln möchte ich euch dann auch gerne noch ein paar Möglichkeiten aufzeigen, die partnerschaftliche Sexualität und vor allem auch das eigene Körperschema nachhaltig zu verbessern. Doch für heute sind das wohl erst einmal genug neue Informationen ...
Hast du in diesem Artikel etwas neues gelernt? Musstest du schmunzeln oder warst du überrascht?
Sollte dir dieser Artikel gefallen haben und du meinst, dass auch andere Betroffene (oder deren Partner, Angehörige) von der Lektüre profitieren könnten, dann würde ich mich, aufgrund meiner eigenen Abstinenz, besonders darüber freuen, wenn du mir hilfst, die wichtigen Informationen über Darmerkrankungen hinaus in die weite Welt zu tragen. Teile sie bitte in Facebook-Gruppen, mit dir bekannten Betroffenen per Mail usw., damit noch mehr Patienten von meiner Arbeit (und natürlich der der hier zitierten fleißigen Forscher!!!) profitieren können!
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