Die optimale Reizdarm-Therapie? Darmsanierung via Künstlicher Intelligenz (KI) reduziert Durchfall, Verstopfung und Bauchschmerzen des Reizdarmsyndroms

In meinem Buch "Dein Reizdarm IST heilbar!" (humboldt) werfe ich im Abschlusskapitel einen "Blick in die Glaskugel". In diesem Ausblick prophezeie ich unter anderem, dass in nicht ferner Zukunft ein Computer-Algorithmus auf der Grundlage zuvor gesammelter Biomarker des gastrointestinalen Mikrobioms (Darmflora) und Metaboloms (Stoffwechseleigenschaften von Zellen und Geweben) eine perfekt auf den einzelnen Reizdarm-Patienten zugeschnittene Therapieempfehlung kreieren und dadurch das heute noch übliche langwierige und oft nervtötende Herumprobieren überflüssig machen wird.  Eine deutliche Linderung oder gar Heilung der Reizdarm-Beschwerden wird dann ohne Weiteres innerhalb weniger Wochen für nahezu jeden Betroffenen möglich sein. Für viele RDS-Patienten mit denen ich spreche, klingen diese Statements nach einer schlechten Mischung aus Science-Fiction und Wunschkonzert. Doch diese "Zukunftsutopie" hat an den internationalen Universitäten bereits begonnen und auch schon vielen Betroffenen des Reizdarmsyndroms eine deutliche Linderung ihrer Beschwerden ermöglicht! 

 

Nachdem ich kürzlich auf meinem Zweitblog eine faszinierende Studie vorstellte, in welcher mittels Maschinellem Lernen sage und schreibe 67,5% der Probanden in nur sechs Wochen ihre Reizdarm-Beschwerden vollständig heilen konnten, möchte ich heute eine weitere wissenschaftliche Untersuchung beleuchten, welche die Erkenntnisse aus der zuvor behandelten Studie perfekt ergänzt und deren größere Schwächen kompensiert. 

 

Eines kann ich bereits jetzt zu Anfang dieses Artikels versprechen: Es wird wieder wissenschaftlich faszinierend zugehen und die Ergebnisse werden auch jenen Reizdarm-Patienten Mut und Hoffnung schenken, die von sehr starken Darm-Symptomen betroffen sind. Stürzen wir uns also gemeinsam in die Analyse! 

 

Zusammenfassung: KI heilt Reizdarm in sechs Wochen

Damit die Ergebnisse der heute vorgestellten Studie besser eingeordnet werden können, möchte ich zuvor das Vorgehen und die Erkenntnisse der auf dem Zweitblog ausführlicher besprochenen Untersuchung wenigstens kurz zusammenfassen. 

Wissenschaftler aus den USA assoziierten auf der Grundlage publizierter Studien zum Thema Ernährungstherapie beim Reizdarmsyndrom hunderte von Lebensmitteln mit den demographischen Kategorien (Alter, Geschlecht, Subtyp, Beschwerdegrad etc.) der Studienteilnehmer.  Ziel war ein überschaubarer Pool genau jener Lebensmittel, welche mit der höchsten Wahrscheinlichkeit die Beschwerden für einen individuellen Patienten triggern.  Während der eigentlichen Diätphase grenzte ein Rechner diesen Pool mittels Maschinellem Lernen weiter ein. Die Vermeidung von lediglich drei bis fünf Lebensmitteln führte dann für 67,5% der Teilnehmer zu einer vollständigen klinischen Remission der Beschwerden (Jactel et al.,2022). 

 

So faszinierend und revolutionär die Ergebnisse des Experimentes klingen mögen, sollten dennoch einige wichtige Schwächen der Studie beachtet werden. Zum einen handelt es sich um eine kleine Kohortenstudie ohne Kontrollgruppe. Die Effekte könnten also auch dem Plazebo-Effekt geschuldet sein. Außerdem ist es durchaus denkbar, dass die Symptomfreiheit einfach dadurch erzielt wurde, dass bereits zuvor bestätigte Trigger-Lebensmittel eliminiert wurden - dann wäre nicht das Maschinelle Lernen von Bedeutung gewesen, sondern die vorausgehende Datenanalyse.  Ein weiteres und größeres Problem für die Interpretation war der ungewöhnlich geringe Betroffenheitsgrad der Teilnehmer, deren Schweregrad auf dem IBS-Symptom-Severity-Score (IBS-SSS) im Durchschnitt gerade einmal bei 150 Punkten lag, was einer milden Ausprägung der Reizdarm-Symptome entspricht. Nun machen Betroffene mit solch milden Darm-Symptomen nicht einmal ein Drittel aller Reizdarm-Patienten aus und sind somit nicht repräsentativ für unser Kollektiv. 

 

Dass es aber in beiden Punkten auch anders geht, beweist unsere heute im Fokus stehende Untersuchung aus der Türkei!

 

Darmsanierung mit Hilfe künstlicher Intelligenz

Im Gegensatz zur eben zitierten amerikanischen Studie gingen die türkischen Wissenschaftler einen anderen Weg. Sie korrelierten also nicht die demographischen Kategorien mit dem Essverhalten der Patienten, sondern nutzten zu diesem Zweck den individuellen "Fingerabdruck" der Darmflora. Dafür verwendeten sie die auch von mir hier häufig empfohlene 16S-rRNA-Gensequenzierung des gastrointestinalen Mikrobioms. (Soviel wieder einmal zu der Behauptung vieler deutscher Gastroenterologen, man könne mit solchen Untersuchungen noch nichts sinnvolles anstellen ...) 

Die Wissenschaftler rekrutierten 34 Patienten mit einem diagnostizierten Reizdarmsyndrom nach ROM-IV-Kriterien und 34 passende gesunde Kontrollpersonen. Bei den RDS-Betroffenen handelte es sich ausschließlich um Patienten vom so genannten Mischtyp (chronische Bauchschmerzen sowie Durchfall und Verstopfung im Wechsel) mit einer starken symptomatischen Ausprägung (IBS-SSS vor Intervention: 360). Nun etablierten die Forscher in einem ersten Schritt relevante Unterschiede in der Darmflora von Patienten und gesunden Kontrollpersonen. Hierbei stachen besonders Differenzen bei den Gattungen Faecalibacterium und Ruminococcus hervor. 

 

Abb1: Ergebnis der 16S-rRNA-Sequenzierung des Mikrobioms für Patienten mit Reizdarmsyndrom und gesunde Kontrollpersonen. Es ergeben sich signifikante Unterschiede auf Familien- und Gattungsebene.
Abb1: Ergebnis der 16S-rRNA-Sequenzierung des Mikrobioms für Patienten mit Reizdarmsyndrom und gesunde Kontrollpersonen. Es ergeben sich signifikante Unterschiede auf Familien- und Gattungsebene.

Ein zuvor von den Wissenschaftlern trainierter Algorithmus war dazu in der Lage, auf Grundlage des individuellen Mikrobioms klar zwischen Patienten und gesunden Personen zu unterscheiden. Hierfür berechnete er einen individuellen "IBS-Index-Score", welcher die Krankheitswahrscheinlichkeit, gemessen an der Charakteristik des Mikrobioms, ausdrückt. 

Ziel der Intervention war es nun, diesen IBS-Index-Score durch eine Veränderung des persönlichen Ernährungsverhaltens möglichst stark zu senken. Auch hier ist das Vorgehen der türkischen Forscher besonders interessant. Da nicht die Reduktion der Beschwerden im Vordergrund stand, sondern die Modulation der Darmflora, berechnete die Künstliche Intelligenz nun Veränderungen der Mikronährstoffversorgung, welche zu dem erwünschten Shift der Darmflora führen sollten. Dass Vitamine und Mineralstoffe bzw. deren Mängel einen großen Einfluss auf die Darmflora haben, ist bereits seit langer Zeit evident (siehe für einen Überblick Yang et al.,2020).

 

Die Patienten mit einem Reizdarm erhielten nun also entweder eine durch die KI errechnete personalisierte Diät auf der Grundlage ihres Mikrobioms mit einem spezifischen Mikronährstoff-Profil oder ein Ernährungsprogramm basierend auf den etablierten NICE-Guidelines zur Behandlung des Reizdarmsyndroms. 

 

Zentrale Ergebnisse nach sechs Wochen

Insgesamt flossen leider nur die Daten von 25 Patienten in die endgültige Auswertung ein. Neun Probanden mussten aufgrund der Nichteinhaltung diätetischer Vorgaben ausgeschlossen werden. 

In beiden Gruppen kam es zu einer signifikanten Verminderung des IBS-Index-Scores, wobei die Reduktion in der Gruppe mit der personalisierten Diät deutlich ausgeprägter war (Karakan et al.,2022). Ein bedeutsames Ergebnis war dabei die deutliche Zunahme von Mikroorganismen der Gattung Faecalibacterium, welche nur in der KI-Gruppe beobachtet werden konnte. Wir können also von einer erfolgreichen Darmsanierung durch eine veränderte Zufuhr von Vitaminen und Mineralstoffen sprechen.

 

Abb2: Reduktion des auf der Darmflora-Analyse basierenden IBS-Index-Scores. Links mittels der durch eine KI berechneten mikronährstoffmodifizierten Diät (Vitamine, Mineralstoffe). Rechts mittels NICE-Diät (Standardempfehlungen).
Abb2: Reduktion des auf der Darmflora-Analyse basierenden IBS-Index-Scores. Links mittels der durch eine KI berechneten mikronährstoffmodifizierten Diät (Vitamine, Mineralstoffe). Rechts mittels NICE-Diät (Standardempfehlungen).

Doch als ehemals selbst schwer betroffener Patient weiß ich natürlich, dass sich die allermeisten meiner Leidensgenossen weniger für die biologischen Details interessieren, sondern dafür, was mit den Beschwerden der Betroffenen passierte. Zuerst einmal: Die Verminderung des IBS-Index-Scores (also die "Darmsanierung") korrelierte stark mit der Veränderung im IBS-Symptom-Severity-Score (also der Stärke der Symptome). Je besser der Zustand der Darmflora wurde, desto geringer wurden auch die Reizdarm-Symptome. Statistisch entsprach dies einer Verbesserung um ordentliche 125 Punkte auf dem IBS-SSS und damit der Verschiebung vom höchsten Schweregrad hin zu einer moderaten Ausprägung. Diesen beachtenswerten Erfolg konnten immerhin 78% der Interventionsgruppe verbuchen. 

 

Eine weitere Besonderheit sollte aber unbedingt noch herausgestellt werden. In erster Linie arbeitete ich die Mediterrane Low-FODMAP-Diät (mLFD), die ich detailliert in meinem Buch "Dein Reizdarm IST heilbar!" vorstelle, deshalb aus, da die klassische Low-FODMAP-Diät keinen Einfluss auf die tatsächlichen Ursachen des Reizdarms nimmt oder diese sogar verschlechtert (Dysbiose des Mikrobioms und chronische Immunaktivierung). Da sie dies vernachlässigt, kann sie aber auch nicht auf allen Ebenen der Erkrankung wirken und die ganze Bandbreite von Beschwerden des Reizdarms lindern. So zeigen Metaanalysen, dass die klassische Low-FODMAP-Diät zwar verlässlich Bauchschmerzen und Blähungen vermindert, aber nur einen geringen oder keinen positiven Einfluss auf Stuhlunregelmäßigkeiten hat (Altobelli et al.,2017).  Gerade letztere erschweren aber den Alltag mit unserer Erkrankung besonders stark. Als jemand, der täglich oft mehr als zehn spontane Durchfälle erleben durfte, kann ich davon ein Liedchen singen ... 

Die türkischen Forscher konnten mit ihrem Vorgehen ebenfalls eine signifikante Verbesserung ausnahmslos aller typischer Reizdarm-Beschwerden erzielen - vom Bauchschmerz, über Blähungen und Unwohlsein, bis hin zur Unzufriedenheit mit den Stuhlfunktionen. 

 

Abb3: Verbesserungen relevanter Kategorien des Reizdarmsyndroms durch die Intervention. a) IBS-SSS (globaler Schweregrad) - links KI-Diät, rechts NICE-Diät; b) Symptomveränderungen durch KI-Diät; c) Symptomveränderungen durch NICE-Diät
Abb3: Verbesserungen relevanter Kategorien des Reizdarmsyndroms durch die Intervention. a) IBS-SSS (globaler Schweregrad) - links KI-Diät, rechts NICE-Diät; b) Symptomveränderungen durch KI-Diät; c) Symptomveränderungen durch NICE-Diät

Fazit: Was wir aus dieser Studie lernen können

Auch diese Untersuchung hat natürlich ihre individuellen Stärken und Schwächen. Zu letzteren gehört wieder die geringe Teilnehmerzahl und dass sie nicht doppelblind durchgeführt werden konnte. Insgesamt aber erweitert sie auf großartige Art und Weise unser Verständnis an der Darmflora orientierter Therapien. 

 

Was solltest Du dir auf jeden Fall aus der Lektüre dieses Artikels mitnehmen:

  • Therapien des Reizdarmsyndroms auf der Grundlage künstlicher Intelligenz sind bereits heute vorhanden und weisen eine moderate Effektivität bei relativ geringem Eingriff in den Lebensstil auf. 
  • Die KI-geleiteten Behandlungsstrategien sind auch wirksam für schwer betroffene Patienten
  • Eine Modulation der Darmflora (Darmsanierung) durch eine veränderte Mikronährstoffzufuhr ist möglich
  • Das Ausmaß der Darmsanierung korreliert mit der Verminderung der Beschwerden.
  • Ursächliche Therapieansätze wirken auf alle Beschwerden gleichzeitig

Bis die KI-geleiteten Therapien Einzug in die deutschen Arztpraxen und Kliniken halten, wird wohl noch einige Zeit verstreichen. Bis dahin solltest Du die altbewährten Strategien einsetzen und diese durch neuere Evidenz verfeinern. Die Mediterrane Low-FODMAP-Diät arbeitet übrigens genau nach dem Prinzip der in diesem Artikel vorgestellten Studie: Sie lindert Entzündungen, verbessert die Dysbiose des Mikrobioms und das Mikronährstoffprofil der Patienten (Godny et al.,2020; Merra et al.,2020; Peng et al.,2019). Sie verhütet das Reizdarmsyndrom und lindert seine Beschwerden. Ganz ohne einen Superrechner ... 

 

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Abbildungsverzeichnis

Abb1, Abb2 & Abb3

Karakan T, Gundogdu A, Alagözlü H, Ekmen N, Ozgul S, Tunali V, Hora M, Beyazgul D, Nalbantoglu OU. Artificial intelligence-based personalized diet: A pilot clinical study for irritable bowel syndrome. Gut Microbes. 2022 Jan-Dec;14(1):2138672. doi: 10.1080/19490976.2022.2138672. PMID: 36318623; PMCID: PMC9629088.

 

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