Sprechen Ärzte oder nicht-betroffene Personen über das Reizdarmsyndrom, werden schnell und nahezu ausschließlich die gastrointestinalen Beschwerden thematisiert. Sie reden dann von Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen und Blähungen. Unter Umständen schenken sie auch Übelkeit oder psychischen Begleiterkrankungen (Angsterleben, depressive Verstimmungen) etwas Aufmerksamkeit. Dies ist zwar naheliegend, stellt aber schon beinahe einen Fall grober Verharmlosung dar!
Denn wir Betroffenen wissen es natürlich besser: Unsere Erkrankung, das Reizdarmsyndrom, ist auch durch zahlreiche extraintestinale bzw. systemische (also nicht lediglich den Darm betreffende) Symptome charakterisiert. Auch die Forschung gibt uns dabei recht. Zahlreiche Untersuchungen zeigen inzwischen, dass Reizdarmpatienten neben den klassischen, die Erkrankung definierenden, Symptomen auch signifikant häufiger muskuloskelettale, neuropsychiatrische und hormonelle Beschwerden berichten (siehe u.a. Undseth und Kollegen, 2016; Vara und Kollegen, 2016; Zimmerman, 2003).
Han und Yang (2016) benennen in ihrem Review zum Thema Fatigue im Rahmen des Reizdarmsyndroms Müdigkeit und Erschöpfung als dritthäufigstes Reizdarmsymptom und zwar gleich nach Bauchschmerzen und veränderten Stuhlgewohnheiten. Dabei demonstrieren die Autoren an mehreren Studien, dass mehr als jeder zweite Patient mit einem Reizdarm über Erschöpfung klagt und dass ein höherer Erschöpfungsgrad stark mit der Lebensqualität korreliert ist. Zusätzlich führt das Erleben von chronischer Müdigkeit und Abgeschlagenheit zu einer weiteren Einschränkung der Arbeitsproduktivität, mehr Krankheitstagen und verminderten Therapieerfolgen.
Für das dritthäufigste Symptom einer so verbreiteten Erkrankung ist die Erschöpfung beim Reizdarmsyndrom nur spärlich untersucht. Im folgenden Blogartikel werden wir deshalb gemeinsam ergründen, wie Erschöpfung, schnellere Ermüdbarkeit und das Reizdarmsyndrom zusammenhängen. Außerdem werden wir wissenschaftlich-fundierte Schritte diskutieren, wie wir beide Faktoren dauerhaft lindern können. In weiten Teilen beziehen wir uns dabei auf die herausragende Arbeit von Lakhan und Kirchgessner (2010).
Müdigkeit, Erschöpfung, Chronic Fatigue Syndrome
Bevor wir mit der Interpretation der vorhandenen Daten zu Ursachen der Erschöpfung beim Reizdarmsyndrom beginnen, ist es notwendig, einige Begriffe etwas klarer zu umreißen. Bereits im Review von Han und Yang wird deutlich, dass die Erfassung von Erschöpfung auf erhebliche Probleme stößt, denn je nach Forschergruppe und vor allem auch Weltregion werden ganz unterschiedliche Termini verwendet, um diese zu erfassen. Einige Wissenschaftler fragen also gezielt nach Fatigue, andere nach Erschöpfung oder chronischer Müdigkeit.
Dabei hat sich der Begriff der Fatigue vor allem im englischsprachigen Raum durchgesetzt. Wörtlich aus dem Französischen übersetzt würde man hier eben von Müdigkeit sprechen. Im medizinischen Sinne geht es aber um mehr als das. Fatigue bezeichnet dabei eine signifikante chronische Müdigkeit, erschöpfte Kraftreserven, eine geringere Belastungstoleranz und -ausdauer und ein gesteigertes Ruhebedürfnis. Alle genannten Faktoren stehen in keinem Verhältnis zu vorangegangenen Belastungen.
In den deutschsprachigen Ländern wird der Terminus der Fatigue wiederum nur selten genutzt, auch wenn sich dies in den letzten Jahren zu ändern scheint. Vereinzelt finden wir ihn allerdings zur Bezeichnung eines spezifischen Syndroms innerhalb der Onkologie bzw. in der Palliativmedizin (im Englischen dann spezifischer als "cancer-fatigue" bezeichnet". Viele deutschsprachige Fachwörterbücher der Medizin weisen den Begriff der Fatigue nicht einmal aus.
Für unsere weiteren Überlegungen möchte ich allerdings den erweiterten Begriff der Fatigue benutzen, da wissenschaftliche Untersuchungen am Reizdarmsyndrom nahelegen, dass diese die Erschöpfung multidimensional erleben und sie keineswegs nur auf Müdigkeit beschränkt ist (Han & Yang, 2016).
Das Chronic-Fatigue-Syndrome bzw. die myalgische Enzephalomyelitis (ME)
Dass sich die Bekanntheit des Begriffs Fatigue in Deutschland langsam aber stetig erhöht, liegt vor allem an der Zunahme der Diagnosen und damit auch der Berichterstattung über das so genannte Chronic-Fatigue-Syndrome (in Deutschland auch häufig "Chronisches Erschöpfungssyndrom" oder "Chronisches Müdigkeitssyndrom"; weitere Bezeichnung "Myalgische Enzephalomyelitis"). Dabei handelt es sich um eine in der ICD-10-Klassifikation definierte chronische Erkrankung, welche durch das Leitsymptom einer starken Müdigkeit und Erschöpfung definiert ist, die alle Lebensbereiche betrifft und in keinem Verhältnis zu den geleisteten Anstrengungen steht.
Das Robert-Koch-Institut (2015) geht in Deutschland von einem Betroffenenanteil von rund 3,3% der Gesamtbevölkerung aus. Neben dem Leitsymptom der Erschöpfung selbst durch sonst gering belastende Alltagstätigkeiten und der gesteigerten Erholungsphasen von bis zu mehreren Tagen, wird das Chronic-Fatigue-Syndrome (CFS) häufig durch weitere, oft neuropsychiatrische und kognitive Einschränkungen beschrieben. Dazu gehören prominent Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, verlangsamtes Denken, "brain-fog", Wortfindungsstörungen, Gedächtnisschwierigkeiten, Schwindel.
Die Ursachen des Chronischen Erschöpfungssyndroms sind bis heute nicht abschließend geklärt. Bekannt sind aber unter anderem biologische, immunologische und hormonelle Fehlregulationen im Rahmen des CFS. Die beiden Theorien mit dem gewichtigsten Datenmaterial sind heute die Infektionshypothese und die gesteigerte Immunaktivierung (beide könnten auch kausal verflochten sein). So zeigten etwa Hornig und Kollegen (2015), dass beim Chronic-Fatigue-Syndrome proinflammatorische und antiinflammatorische Zytokine aktiviert werden und deren sonst vorhandenes Zusammenspiel nachhaltig gestört ist. Diese Immunaktivierung verändert sich im Krankheitsverlauf und korreliert eng mit der Stärke und Ausprägung der vorhandenen CFS-Symptome.
Für die Infektionshypothese wiederum sprechen Befunde, die zeigen, dass über 40% der Chronic-Fatigue-Patienten mit dem humanen Parvovirus B19 infiziert waren, während dies nur auf 15% der gesunden Vergleichspersonen zutraf (bspw. Fremont und Kollegen, 2009). Hier könnte die Überlegung zielführend sein, dass es sich beim CFS, genauso wie auch beim Reizdarmsyndrom, nicht um eine einheitliche Erkrankung handelt, sondern um verschiedene Krankheiten, welche ganz ähnliche Symptomenkomplexe (eben Syndrome) hervorrufen können.
Für die Diagnose des eigentlichen Chronic-Fatigue-Syndromes sind mehrere Diagnosekriterien zu erfüllen. Sind diese vorhanden, kann der ICD-Schlüssel G93.3 vergeben werden. Das alleinige Vorliegen von Erschöpfung und Müdigkeit rechtfertigt die Diagnose ausdrücklich nicht. Hier muss auf den Diagnoseschlüssel "Unwohlsein und Ermüdung" (R53) zurückgegriffen, oder eine andere Erkrankung als Auslöser codiert werden.
Beobachtete Zusammenhänge zwischen Reizdarmsyndrom und Chronic-Fatigue-Syndrome (CFS)
Weiter oben hatten wir bereits festgehalten, dass chronische Erschöpfung eines der zentralen Symptome des Reizdarmsyndroms ist. Mehr als jeder zweite unserer Community ist neben den gastrointestinalen Beschwerden auch davon betroffen. Doch wie sieht es eigentlich andersrum aus? Gibt es bei den Chronic-Fatigue-Leidenden etwa ähnliche Befunde?
Absolut! Whitehead und Kollegen (2002) zählen in ihrem Review zu klinischen Komorbiditäten beim Reizdarmsyndrom das Chronic-Fatigue-Syndrome zu den am stärksten mit dem Reizdarm assoziierten Erkrankungen, und zwar noch vor der Fibromyalgie und chronischen Beckenschmerzen. 51% der CFS-Patienten erfüllen hierbei ebenfalls die Kriterien für das Reizdarmsyndrom (Fibromyalgie 48%). Aaron und Kollegen (2000) berichten die schockierende Zahl von sage und schreibe 92% der von ihnen untersuchten Betroffenen mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom, welche die Kriterien für die Diagnose des Reizdarmsyndroms erfüllten, oder diese in der Vergangenheit bereits erhalten hatten!
Gibt es allerdings diese gigantischen Überschneidungen zwischen den einzelnen Erkrankungen Reizdarmsyndrom, Chronic-Fatigue-Syndrome und Fibromyalgie (und weiteren, wie beispielsweise der chronischen systemischen Mastzellaktivierung MCAS), dann ist es gerechtfertigt anzunehmen, dass diese gemeinsame Pathomechanismen oder sogar Ursachen teilen könnten, oder aber das Vorliegen der einen Störung, die Entwicklung einer weiteren begünstigt (wie oben RDS->CFS).
Schauen wir uns einmal an, was die Forschung dazu bisher relevantes beitragen konnte.
Mögliche geteilte Ursachen und Pathomechanismen von chronischer Erschöpfung und Reizdarmsyndrom
1. Ein verändertes Mikrobiom - Die Dysbiose der Darmflora
Wenn wir über Ursachen des Reizdarmsyndroms sprechen, müssen wir natürlich das Thema Mikrobiom bzw. Darmflora anschneiden. Die chronisch veränderte Darmflora beim Reizdarmsyndrom ist gut dokumentiert und meiner Meinung nach ein zugrundeliegender Faktor für die heute bekannten hauptsächlichen Krankheitsmechanismen (Mastzellaktivierung, Lipopolysaccharide, Serotoninstoffwechsel, Barrierestörung) des Reizdarmsyndroms. Nun zeigen wissenschaftliche Untersuchungen ein ganz ähnliches Muster für die chronische Erschöpfung. Logan und Kollegen beschrieben 2003 eine deutlich reduzierte Konzentration von Bifidobakterien und das gehäufte Auftreten einer Dünndarmfehlbesiedlung bei Patienten mit einem Chronic-Fatigue-Syndrome. Und wer sich auch nur etwas mit der Datenlage zum Reizdarmsyndrom beschäftigt hat weiß, dass genau diese beiden Faktoren auch unsere Erkrankung kennzeichnen (zu den Bifidobakterien siehe Distrutti und Kollegen, 2016; zur Dünndarmfehlbesiedlung siehe bspw. Ghoshal und Kollegen, 2017). Ein möglicher Erklärungsansatz für diese Überschneidung könnte im psychologischen Bereich zu suchen sein. Sowohl beim Reizdarmsyndrom als auch beim Chronischen Erschöpfungssyndrom fungiert Stress als einer der stärksten Triggerfaktoren und begünstigt das Risiko der Krankheitsentstehung. Psychologischer Stress ist fähig, die Darmflora dauerhaft zu verändern und zwar im Sinne einer Depression der Bifidobakterien (Bailey und Kollegen, 2004).
Doch die Wissenschaft weiß nicht nur um die Korrelation von Darmdysbiose und chronischer Erschöpfung, sondern auch von einer zielgerichteten Wirksamkeit. Ein weiterer Befund der Mikrobiomanalysen war nämlich die erhöhte Konzentration der Spezies Enterococcus (Sheedy und Kollegen, 2009). Und umso bedeutsamer und statistisch signifikanter dieser Befund ausfiel, desto stärker fielen die neurologischen und kognitiven Defizite des CFS aus (Butt und Kollegen, 2001)!
2. Endotoxemie - Wenn chemische Zerfallsprodukte der Darmbakterien die Darmschleimhaut überfallen
Endotoxine sind eine Gruppe in der Natur vorkommender chemischer Verbindungen. Sie sind Zerfallsprodukte von Bakterien, welche im Körper zahlreiche Reaktionen hervorrufen können. Hier finden wir natürlich einen deutlichen Zusammenhang mit einer langfristigen Veränderung des Mikrobioms im Rahmen von Reizdarmsyndrom und Chronischem Erschöpfungssyndrom. Begünstigt eine diesbezügliche Dysbiose das Überwuchern dominanter potentiell-pathogener Bakterienstämme, haben diese die Möglichkeit mehr Endotoxine freizusetzen.
Endotoxine (chemische Einordnung: Lipopolysaccharide) befinden sich in der äußeren Zellmembran gram-negativer Bakterien. Kommt es zur Zelllysis, also zur Schädigung oder Auflösung der Zellmembran, werden die Toxine freigesetzt. Bereits in niedrigsten Konzentrationen entfalten sie dann ihre schädlichen Wirkungen an Schleimhäuten. Im Normalfall aktivieren sie über zahlreiche Signalwege immunokompetente Zellen. Die Folgen reichen von Entzündungen des Gewebes bis zum Absterben der Zelle. Endotoxine können Fieber induzieren.
Zhou und Kollegen (2018) zeigten kürzlich in einer bahnbrechenden Untersuchung, dass Lipopolysaccharide (LPS) Entzündungen auslösen, die Darmbarriere schädigen ("Leaky Gut") und die für den Reizdarm typische Hypersensitivität bedingen. In einem nächsten Schritt demonstrierten die findigen Wissenschaftler, dass die positiven Wirkungen der low-FODMAP-Diät und des Antibiotikums Rifaximin über eine Modulation der Darmflora zuungunsten gram-negativer Darmbakterien vermittelt werden. Weniger gram-negative Darmbakterien setzten weniger Endotoxine frei - die Darmschleimhaut erholte sich, Hypersensitivität und Transitstörungen nahmen ab.
Maes und Kollegen (2007) zeigten erhöhte IgA- und IgM-Antikörper gegen Lipopolysaccharide gram-negativer Darmbakterien im Rahmen des Chronic-Fatigue-Syndromes. Die Stärke der Antikörperaktivierung korrelierte dabei stark mit dem Schweregrad der Erkrankung. Normalerweise bildet die Darmschleimhaut eine physiologische Barriere gegen das Übertreten von Mikroorganismen und Endotoxinen aus dem Darmtrakt in das menschliche System. Dies veranlasste die Forscher zu der Hypothese, dass auch beim Chronischen Erschöpfungssyndrom eine Störung der Darmbarriere im Sinne einer gesteigerten Permeabilität bzw. Durchlässigkeit vorhanden sein müsse und vermutlich krankheitsbedingend oder -verstärkend wirken könne.
3. Die löchrige Darmbarriere - Wenn Bakterien und Toxine den Körper und das Gehirn fluten
Um sich vor unkontrollierten Entzündungsprozessen zu schützen, hat das Darmepithelium verschiedene Strategien um das Wachstum der Darmbakterien zu hemmen, den direkten Kontakt mit den Mikroorganismen zu vermeiden und die Passage von Bakterien und Endotoxinen in tiefere Gewebe bzw. in das menschliche System zu verhindern. Hierbei kann nicht oft genug betont werden, dass die Darmbarriere einer der wichtigsten Schutzmechanismen unseres Immunsystems zur Abwehr von Entzündungen und Infektionen ist und dabei das menschliche Innere von einem dicht bevölkerten ("schmutzigen") Außen trennt. Denn der Darm, ein durchgängiger Schlauch gehört theoretisch gesehen zu unserer Umwelt und ist klar von unserem eigentlichen System getrennt, was seine dichte Besiedlung mit unterschiedlichsten Mikroorganismen auch erst möglich macht. Alle diese überlebenswichtigen Funktionen werden von einer einzelnen Schicht(!) Epithelzellen wahrgenommen. Die einzelnen Epithelzellen sind durch die so genannten "tight-junction-proteins" miteinander verbunden. Sie können damit als "Torwächter" des ganzen Systems angesehen werden.
Inzwischen kennen wir verschiedene Variablen, welche die Darmbarriere nachhaltig schädigen können. Prominenteste Beispiele sind etwa das Klebeprotein Gluten beim Reizdarmsyndrom (vgl. Vazquez-Roque und Kollegen, 2013) oder psychischer Stress (Qin und Kollegen, 2014). Ist die Darmbarriere erst einmal aufgeweicht (in der Populärwissenschaft wird dann häufig von einem "Leaky Gut Syndrome" gesprochen), haben die Torwächter-Proteine den Weg für ungebetene Gäste frei gemacht. Antigene und Mikroorganismen passieren die sonst gut geschützte Pforte und die provozierte Darmmukosa reagiert darauf mit einer überschießenden Immunantwort. Dies führt u.a. zu Veränderungen bei Darmmotilität und -Sekretion, sowie zu einer gesteigerten Sensitivität gegenüber verschiedensten Reizen.
Maes und Kollegen (2007) zeigten durch ihre Ergebnisse an Endotoxinen im System, dass eine gestörte Darmbarriere auch beim Chronischen Erschöpfungssyndrom eine entscheidende Rolle spielt.
4. Entzündungen - Wenn der Darm in Flammen steht
Jahrzehntelang erzählte man uns Reizdarmpatienten nach der Standarddiagnostik aus Laborparametern und einer Darmspiegelung, man habe nichts auffälliges entdecken können. Dies sei eben das Kriterium, welches uns von beispielsweise Patienten mit Morbus Crohn unterscheide. Letztere seien durch mess- und sichtbare Entzündungsprozesse kategorisierbar. Dieser Befund hat sich dramatisch verändert. Zahlreiche Forschergruppen beschreiben aktuell eine Schlüsselrolle von gastrointestinalen Mikroentzündungen bei der Pathophysiologie des Reizdarmsyndroms (siehe bspw. Sinagra und Kollegen, 2016). Diese veränderte Sichtweise führte zur klinischen Erforschung neuester Reizdarmtherapeutika, u.a. der Mastzellstabilisatoren.
Auch das Chronic-Fatigue-Syndrome ist durch diese Mikroentzündungen gekennzeichnet. Dabei zeigten Maes und Kollegen in ihrer schon öfter zitierten Arbeit, dass das Ausmaß der Erschöpfung direkt mit dem messbaren Entzündungsstatus korreliert. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass das Chronische Erschöpfungssyndrom Entzündungen induziert. Viel eher ist anzunehmen, dass Menschen, die unter gastrointestinalen und/oder systemischen Mikroentzündungen leiden, eher die Kriterien für das Chronic-Fatigue-Syndrome erfüllen. Dies kann wissenschaftlich mit Befunden untermauert werden, die zeigen, dass proinflammatorische Zytokine im Menschen alle Leitsymptome des Chronischen Erschöpfungssyndroms hervorrufen können (vgl. Dantzer und Kollegen, 2008). Diese Ausprägung eines "sickness-behaviors" mit Erschöpfung, Depression und Rückzug/Vermeidung kann evolutionsbiologisch sinnhaft gedeutet werden. So kann es einstmals für das Überleben der Sippe notwendig gewesen sein, dass sich etwa infizierte Artgenossen nicht mehr aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligt haben (Stichwort: Epidemie).
5. Oxidativer Stress und die Mitochondrien
Oxidativer Stress bezeichnet eine Stoffwechsellage bei der ein Übermaß an reaktiven Sauerstoffverbindungen gebildet wird oder vorhanden ist. Der Körper reagiert auf ansteigenden oxidativen Stress mit einer Erhöhung der diesem Prozess entgegenwirkenden Antioxidantien. Ist diese Ressourcenquelle jedoch erschöpft, kann es zur Schädigung von Gewebe und DNA kommen. Außerdem führt oxidativer Stress zu einem Prozess namens Lipidperoxidation, welcher wiederum dafür verantwortlich ist, dass die menschlichen Zellen deutlich mehr Energie aufwenden müssen, um ihre Aufgaben zu bewältigen.
Die Bedeutung von oxidativem Stress beim Chronic-Fatigue-Syndrome ist inzwischen so gut untersucht, dass Marker für diese Stoffwechsellage nicht nur als Risikofaktor für die Erkrankung gelten, sondern auch hinsichtlich ihrer Sensitivität als Biomarker zur Diagnostik des CFS untersucht werden. Maes und Kollegen (2009) zeigten dabei, dass erhöhte Werte mit depressiver Verstimmung und Abgeschlagenheit korrelieren. Sido und Kollegen (1998) wiesen nach, dass die Synthese von L-Glutathion bei Patienten mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom gestört ist. Der Mangel an Glutathion führt zu einem Teufelskreislauf, welcher vermehrtem oxidativem Stress Tür und Tor öffnet.
Marker für oxidativen Stress lassen sich auch beim Reizdarmsyndrom nachweisen (siehe u.a. Choghakhori und Kollegen, 2017). Auch diese Variable ist vermutlich über die geteilte Ursache - das veränderte Mikrobiom bzw. die gestörte Darmbarriere vermittelt.
Ein vorläufiges Fazit
Wir haben gesehen, dass das Reizdarmsyndrom und das Chronische Erschöpfungssyndrom viele gemeinsame Pathomechanismen und eventuell auch eine Ursache miteinander teilen. Die hohe Überschneidung der beiden Erkrankungen bei vielen Betroffenen sollte also nicht weiter verwundern. Doch wenn beide Störungen durch Mechanismen wie Darmfloradysbalancen, gastrointestinale Mikroentzündungen und eine gestörte Darmbarriere gekennzeichnet sind, dann sollten sie sich auch durch gleiche oder ähnliche Maßnahmen therapieren lassen.
Letzterem Thema werden wir uns dann im zweiten Teil dieses Artikels ausführlich zuwenden.