Reizdarm und Stimmungsschwankungen? Dieser Zusammenhang wird dich überrasdchen!

Vielleicht kennst du das auch? Gerade geht es dir noch super. Du fühlst dich entspannt und ausgeglichen, hast Spaß mit deiner Familie oder deinen Freunden. Doch plötzlich, scheinbar ohne jeden Anlass, kippt deine Stimmung. Du bist gereizt und jede Aussage deiner Liebsten hat die Wirkung eines Nadelstiches. Zu laut, zu schnell, zu viel, zu offensiv ... Und dann gelingt es dir manchmal nicht, deine Emotionen zurückzuhalten. Ein bissiger Kommentar oder ein wortkarges Schmollen sind da noch die glimpflichsten Reaktionen. 

 

So ergeht es leider vielen Patienten mit Reizdarm, CFS/ME, CED oder MCAS. Unvorhersehbare Stimmungsschwankungen sind gut dokumentierte und typische Begleiter dieser Störungsbilder (für Details siehe bspw. die hervorragende Übersichtsarbeit von Muscatello et al.,2016). Die Raten der betroffenen Patienten variieren dabei je nach Erhebung und Definition des Konstrukts (dazu später mehr) zwischen 30% und bis zu 80% der Reizdarm-Patienten.

Meine eigenen Leser und Zuschauer ordnen sich dabei übrigens eher an der oberen Grenze dieser Spanne ein. Bei einer Umfrage unter Abonnenten meines YouTube-Kanals gaben stattliche 75% der Befragten an, regelmäßig unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Während 25% berichteten, praktisch schon immer mit dieser emotionalen Instabilität zu tun gehabt zu haben, merkten 50% der Teilnehmer an, ihre Stimmungsschwankungen seien mit und durch die Erkrankung immer schlimmer geworden. Auch dieser Unterschied wird uns im heutigen Artikel noch einmal beschäftigen. 

 

Das Problem mit der emotionalen Labilität und vor allem auch Reaktivität ist, dass diese nicht nur nervig für die Reizdarmpatienten selbst ist. Wer hat schon gern andauernd negative Affekte? Die Wutausbrüche, bitterbösen zynischen Spitzen und frustrierten Schweigeexzesse können ernsthafte Folgen für private Beziehungen oder die Karriere mit sich bringen. 

 

Wir werden uns deshalb heute damit beschäftigen, woher die Stimmungsschwankungen beim Reizdarmsyndrom eigentlich kommen. Nur auf diesem Wege können wir Möglichkeiten finden, welche uns dabei helfen können, die emotionale Labilität besser in den Griff zu bekommen. Ich verspreche dir schon einmal ein paar besonders spannende und sicher auch überraschende Zusammenhänge! 


Inhalt: Das wirst du in diesem Artikel lernen.

Belastende Symptome = gereizte Stimmung?

Bild einer Frau mit wütendem Gesichtsausdruck, der Dampf aus den Ohren schießt.
Starke Stimmungsschwankungen gehören zu den häufigsten Beschwerden beim Reizdarmsyndrom. Obwohl 30% bis 80% der Betroffenen über dieses belastende Symptom klagen, wird es von Ärzten oder Ratgebern nur selten thematisiert.
Der häufigste Erklärungsansatz für die gesteigerte emotionale Labilität von RDS-Patienten der mir begegnet, lautet, dass die enormen Stressbelastungen durch die Erkrankung selbst die Wutausbrüche etc. verursachen. Diese Einschätzung wird vor allem von Betroffenen vertreten und ich stimme ihnen zumindest teilweise zu. Denn auch ich kenne ja die Sorgen und Nöte im Berufs- und Privatleben und weiß, wie sehr einen tägliche Durchfälle und Bauchkrämpfe schlauchen können. Ich kann auch die Verzweiflung nachempfinden, wenn man sich auf einen romantischen Strandspaziergang, ein Konzert oder den Stadionbesuch freut und einem der Reizdarm dann (wieder einmal) einen dicken fetten Strich durch die Rechnung macht ...  

 

Und diese Hypothese wird natürlich auch durch die vorhandenen Daten unterstützt: Chronischer Stress führt auch bei gesunden Menschen zu einer gesteigerten emotionalen Instabilität, zu einer verminderten Emotionsregulation und dadurch zu veränderten Verhaltensweisen (z.B. Braund et al.,2019). Ein weiteres starkes Argument für diesen Erklärungsansatz ist, dass die häufigen Stimmungsschwankungen keinesfalls ein Spezifikum des Reizdarms sind, sondern sich bei unzähligen weiteren chronischen Erkrankungen nachweisen lassen (Neagu et al.,2020Wierenga et al.,2017).  

 

Wenn alles so logisch und einfach wäre, dann könnten wir diesen Artikel bereits an dieser Stelle beenden, oder? Doch ich habe die Frage natürlich bewusst im Konjunktiv formuliert. Denn wie du inzwischen sicher realisiert hast, ist beim Reizdarmsyndrom leider gar nichts einfach und leicht verständlich. 

 

Die Reizdarm-Persönlichkeit - eine Annäherung

Seit mehreren Jahrzehnten wissen wir bereits, dass Betroffene des Reizdarmsyndroms im Durchschnitt eine etwas andere Persönlichkeitsstruktur aufweisen als gesunde Kontrollpersonen. (Ich weiß natürlich, dass jeder glaubt, nicht dem statistischen Durchschnitt zu entsprechen. Aber glaub mir: Das ist viel häufiger der Fall, als du denkst!) 

 

Auf den Kern heruntergebrochen kann das Persönlichkeitsbild eines Reizdarmpatienten durch Auffälligkeiten auf den folgenden vier Ebenen beschrieben werden: 

  1. Biopsychosoziale Ebene (z.B. Karacaer et al.,2021)
    1. Temperament (vererbte Differenzen in bspw. emotionaler Reaktivität und Regulation)
    2. Charakter (Temperament plus Lernen und Umweltkontakte)
  2. Fünf-Faktoren-Modell (z.B. Farnam et al.,2008)
    1. Neurotizismus (Tendenz zu negativen Emotionen mit erhöhter Reaktivität)
    2. Gewissenhaftigkeit (Ordnung, Selbstdisziplin, Zielorientiertheit)
  3. Alexithymie (z.B. Kano et al.,2018)
    1. Schwierigkeit, subjektive Emotionen zu erkennen, zu deuten und zu beschreiben
  4. Typ-D-Persönlichkeit (z.B. Sararoudi et al.,2011)
    1. Negative Affektivität (Tendenz zu negativen Emotionen)
    2. Soziale Hemmung (Neigung, Emotionen vor anderen zu verstecken, Unsicherheit in sozialen Situationen)

 Für unsere heutige Diskussion besonders hilfreich ist das Konstrukt des Neurotizismus. Letzteres kann als ein nahezu ideales Rahmenmodell für die Vorhersage von Stimmungsschwankungen mit impulsiven und oft unangemessenen Reaktionen (Angriff oder Flucht/Unterwerfung) angesehen werden. Es beinhaltet:

  • eine Tendenz zu negativen Emotionen wie Angst, Depressionen oder Hostilität
    • mit einer hohen Reaktivität gegenüber psychologischen und physiologischen (Hitze, Luftdruck, Erschöpfung, Hunger etc.) Veränderungen
  • emotionale Instabilität
  • Stressanfälligkeit
  • eine Neigung zu impulsivem Verhalten 

Wenig verwunderlich also, dass Personen mit höheren Neurotizismuswerten eine erheblich ausgeprägtere emotionale Instabilität zeigen (Maher et al.,2023). Diese wechselnden Stimmungslagen können unter anderem durch einen kognitiven Bias bei Aufmerksamkeits- und Interpretationsprozessen erklärt werden (Chen et al.,2023). 

 

ReizdarmPatienten sind deutlich neurotischer als gesunde, aber auch kranke Kontrollpersonen!

Dass RDS-Betroffene deutlich höhere Raten an Neurotizismus zeigen als gesunde Kontrollpersonen, aber auch als Vergleichspersonen mit ganz ähnlichen Symptomen (z.B. jene mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa), ist bereits seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts belegt. Eine 1990 publizierte Arbeit, welche die Neurotizismuswerte von Patienten mit Reizdarmsyndrom, organischen Darmerkrankungen, ohne entsprechende Erkrankung oder aber neurotischen Störungen verglich, beschrieb signifikant höhere Neurotizismusscores für die RDS-Probanden. Diese rangierten etwa auf halbem Weg zwischen der gesunden Bevölkerung und den bereits diagnostizierten neurotischen Störungsbildern (Yadav et al.,1990). Die Häufigkeiten bedeutsamer neurotischer Auffälligkeiten lagen in dieser Erhebung bei 7,8% (gesunde Kontrollpersonen), 24% (organische Darmerkrankung) und 51%(!) (Reizdarmsyndrom). 

 

In den Folgejahren nahm unser Verständnis sowohl der Pathophysiologie des Reizdarmsyndroms als auch der Persönlichkeitsvariable Neurotizismus exponentiell zu. Während sich der Zusammenhang zwischen RDS und Neurotizismus bestätigte und weiter verfestigte, wissen wir heute zum Beispiel auch, dass hohe Neurotizismusscores auch mit stärkeren Darmbeschwerden assoziiert sind (Tayama et al.,2012). 

Abb1: Reizdarmpatienten mit höheren Neurotizismuswerten berichten stärkere Darmbeschwerden. Quelle: Tayama et al.,2012.
Abb1: Reizdarmpatienten mit höheren Neurotizismuswerten berichten stärkere Darmbeschwerden. Quelle: Tayama et al.,2012.
Vielleicht fragst du dich an dieser Stelle, warum wir uns hier ausführlich mit dem Konzept des Neurotizismus beschäftigen. Schließlich müssen diese Befunde ja nicht zwangsläufig der Hypothese der Patienten widersprechen, oder? Die täglichen Symptome, Unsicherheiten und Belastungen machen die Betroffenen eines Reizdarmsyndroms natürlich neurotischer. So ist es ja nur konsequent, wenn Menschen, die regelmäßig unter spontanem Durchfall leiden, jeden Ort panisch nach einer Toilette absuchen oder von Bauchkrämpfen geplagte Leute ihrem Arzt eben etwas missmutiger gegenübertreten als relativ gesunde Zeitgenossen.

 

Klingt auch für mich durchaus plausibel. Wären da nicht unzählige Studien, die belegen, dass der Neurotizismus in hohem Maße genetisch determiniert ist und diese Pfade mit dem Risiko für den Reizdarm korrelieren (z.B. Alemany et al.,2023Eijsbouts et al.,2021). 

Oder einfacher ausgedrückt: Obwohl auch Persönlichkeitseigenschaften im Laufe des Lebens geringfügig variieren können, sind diese (vor allem im interindividuellen Vergleich) auch über Jahrzehnte hinweg äußerst stabil (z.B. Harris et al.,2016). Man wird also nicht von heute auf morgen "neurotisch(er)", weil man an einem chronischen Leiden erkrankt oder ein Trauma durchleben muss. Eine extrem bedeutende Ausnahme von diesem Grundsatz bilden schwere traumatische Erfahrungen im frühen Kindheitsalter, welche die Neurotizismusscore im späteren Erwachsenenalter in die Höhe schnellen lassen können (z.B. Ogle et al.,2014). 

 

Doch die Belege für eine ursächliche Rolle des Neurotizismus und der Stimmungsschwankungen beim Reizdarmsyndrom sind inzwischen noch stichhaltiger.

Stimmungsschwankungen und Reizdarm: Huhn oder Ei?

In einer erst kürzlich publizierten chinesischen Studie untersuchten Wissenschaftler die Art des Zusammenhanges zwischen Reizdarmsyndrom und Stimmungsschwankungen noch genauer (Chen et al.,2024). Hierzu verwendeten sie ein Verfahren, welches bidirektionale Mendelsche Randomisierung genannt wird. Es erlaubt die Bestätigung kausaler Zusammenhänge durch die Berechnung von Assoziationen zwischen genetischen Markern (z.B. für Stimmungsschwankungen), Expositionen (Stimmungsschwankungen) und Phänotypen (z.B. RDS). Die Daten von über 10.000 Reizdarmpatienten und weit über 300.000 Kontrollpersonen flossen in die komplexe Analyse ein.
Zentrales Ergebnis:
Genetisch determininierte Stimmungsschwankungen erhöhen das Risiko an einem Reizdarm zu erkranken signifikant.  
Das Reizdarmsyndrom steht damit allerdings nicht allein auf weiter Flur. Neben dem Reizdarm zeigten zehn weitere Erkrankungen des Verdauungstraktes diesen kausalen Zusammenhang. Zu diesen gehörten bspw. die Gastritis, das Magen- und Dünndarmgeschwür und auch der Reizmagen.
Interessanterweise ließen sich diese kausalen Effekte nicht für bspw. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa demonstrieren. Dieser Befund passt zu älteren Erkenntnissen, dass CED-Betroffene günstigere Neurotizismusprofile (und damit seltenere Stimmungsschwankungen) aufweisen.
Ein wunderbarer Bonus dieser spezifischen Untersuchung war, dass die Mendelsche Randomisierung für beide Richtungen durchgeführt wurde. Und tatsächlich erhöhten genetisch determinierte Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes das Risiko für Stimmungsschwankungen nicht
Zumindest in dieser großen Analyse waren die Stimmungsschwankungen also eindeutig das Huhn, welches erst das Ei Reizdarmsyndrom legt. Nicht anders herum.
Abb2: Verschiedene Plots demonstrieren den kausalen Zusammenhang von Stimmungsschwankungen und Reizdarmsyndrom, ermittelt auf Basis einer Mendelschen Randomisierung. Quelle: Wang et al.,2024.
Abb2: Verschiedene Plots demonstrieren den kausalen Zusammenhang von Stimmungsschwankungen und Reizdarmsyndrom, ermittelt auf Basis einer Mendelschen Randomisierung. Quelle: Wang et al.,2024.
Abb3: Direkte Gegenüberstellung der entsprechenden Plots für Stimmungsschwankungen und Colitis ulcerosa, bei welcher genetisch determinierte Stimmungsschwankungen das Erkrankungsrisiko nicht erhöhten. Quelle: Wang et al.,2024.
Abb3: Direkte Gegenüberstellung der entsprechenden Plots für Stimmungsschwankungen und Colitis ulcerosa, bei welcher genetisch determinierte Stimmungsschwankungen das Erkrankungsrisiko nicht erhöhten. Quelle: Wang et al.,2024.

In ihrer Conclusio schlussfolgern die Wissenschaftler, dass genetisch determinierte Stimmungsschwankungen ursächlich das Risiko für mehrere gastrointestinale Erkrankungen, darunter eben auch Reizdarm und Reizmagen, erhöhen.  Sie schlagen weiterhin vor, dass Interventionen zur Regulation von Stimmungsschwankungen bei diesen Erkrankungen nachhaltige Linderung verschaffen könnten. Dies mag erst einmal etwas befremdlich wirken, doch die Hypothese verfügt (neben den eben beschriebenen theoretischen Hintergründen) durchaus über praktische Evidenz. 

 

So ist etwa eine der bewährtesten Methoden zur Regulation von Emotionen und Vorbeugung von Stimmungsschwankungen das Praktizieren von Achtsamkeit bzw. mindfulness (siehe etwa Grecucci et al.,2015). Achtsamkeitsmeditationen oder Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) wirken wiederum enorm effektiv bei der Linderung der Beschwerden des Reizdarmsyndroms. Sie ... 

  • führen bei drei von vier RDS-Patienten zu signifikanten Verbesserungen der Darmsymptomatik (Naliboff et al.,2020).
  • verbessern die Lebensqualität und Schmerzscores beim Reizdarmsyndrom (Babos et al.,2022). 
  • wirken sich günstig auf Schmerzkatastrophisierung und viszerale Ängste aus (Henrich et al.,2020). 
  • u.v.m.

Du solltest dir diese Möglichkeit zur Behandlung des Reizdarmsyndroms keinesfalls entgehen lassen. Sie ist sicher, evidenz-basiert und sehr effektiv. Und es wird noch besser: Du benötigst dafür keinen Arzt, keinen teuren Therapeuten, kein Equipment ... Nur etwas Motivation und jeden Tag etwas Zeit. Neben der Achtsamkeitsmedition und -therapie haben sich übrigens auch andere Interventionen wie Bewegungstherapie oder Schlafhygiene bei der Regulation emotionaler Instabilität und auch des Reizdarmsyndroms bewährt. 

Falls du noch nicht sicher bist, wie du mit dem Training beginnen sollst, findest du hier vielleicht einige Anregungen:

Infektionen, Mastzellen, SIBO - alles Quatsch?

Die Essenz des meines heutigen Artikels reiht sich also in eine ganze Reihe von vergangenen Erörterungen zur kausalen Rolle der Psyche beim Reizdarmsyndrom ein. So hatte ich in einem der letzten Artikel Evidenz dafür präsentiert, dass manifeste oder subklinische depressive Verstimmungen die Wirksamkeit von Diäten und sogar Medikamenten gegen Reizdarm mindern
Ich lege den Fokus meines aktuellen gesundheitsjournalistischen Schwerpunktes ganz bewusst auf das Feld der Psychosomatik. Damit möchte ich meinen Lesern und Zuschauern zu verstehen geben, wie enorm wichtig ein holistischer Therapieansatz beim Reizdarmsyndrom ist. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Vernachlässigung der biopsychologischen Aspekte unserer Erkrankung haben ernsthafte Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Reise zu einem besseren Gesundheitszustand. 
Und ich muss wohl einräumen, dass ich (in meinem bescheidenen Wirkungsfeld) ebenfalls nicht ganz unschuldig an diesem Sachverhalt bin. Denn natürlich ist ein Kernelement dieses Blogs die populärwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den biologischen und vor allem immunologischen Facetten des Reizdarmsyndroms - von Mastzellhyperplasie über Endotoxämie bis hin zur Systemischen Nickelallergie. 
Was genau ist denn jetzt mit den eben genannten Konzepten?, wirst du vielleicht fragen. Hat der Reizdarm denn plötzlich keine immunologischen oder mikrobiellen Ursachen mehr? Möchte ich mit dir zurück in die 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als man Reizdarmpatienten als Opfer einer psychogenen neurotischen Erkrankung definieren wollte? Meine Antwort ist nein. Aber ich möchte dir gern anhand eines Beispiels demonstrieren, dass die Kluft zwischen biologischen und psychologischen Ursachen beim Reizdarm eine ist, die lediglich in unseren Köpfen existiert. Bleib also bitte noch einen Augenblick konzentriert.
Wir wissen heute etwa, dass eine akute Gastroenteritis ("Magen-Darm-Grippe") der größte Risikofaktor für die Entwicklung eines chronischen Reizdarmsyndroms in den Folgemonaten ist. Wir sprechen in diesem Fall vom postinfektiösen Reizdarm (PI-IBS). Charakterisiert ist dieser Typ der Erkrankung durch eine chronische Immunaktivierung mit der Vermehrung und Aktivierung von Mastzellen und Eosinophilen, einer erhöhten Permeabilität der Darmbarriere ("Leaky Gut") und Verschiebungen im gastrointestinalen Serotoninsystem. Um es plastisch zu machen: Die genanhten Veränderungen führen zu einer erhöhten viszeralen Sensitivität (Bauchschmerzen, Unwohlsein) und zu einer gesteigerten Motilität (breiiger Stuhl, wässrige Durchfälle, häufige Toilettengänge). Klingt erst einmal ziemlich biologisch, wie ich finde ... 
Doch sollten wir an dieser Stelle einmal die Frage stellen, warum eigentlich jeder Mensch einmal von bakteriellen oder viralen Infektionen des Magen-Darm-Traktes betroffen ist, aber nicht jeder auch gleich einen Reizdarm "gratis dazu geschenkt" bekommt. Die Antwort lautet, dass neben inzwischen bekannten genetischen Prädiktoren vor allem der psychologische Zustand vor und während der akuten Gastroenteritis über die Entstehung oder Nichtentstehung eines Reizdarms entscheiden. So vermehren erhöhte Neurotizismusscores das Risiko für den zukünftigen Reizdarm nach einer Infektion um ein Vielfaches (Klem et al.,2017). Sie wirken dabei stärker als Depressionen, Ängste, das Geschlecht, Antibiotikagaben und andere Faktoren. 
Noch einmal in aller Deutlichkeit: Zuerst ist ein Mensch neurotisch(er). Dies kann aufgrund von Erbfaktoren der Fall sein oder weil er als Kind ein erhebliches Trauma miterleben oder selbst erdulden musste. Danach erst folgt der biologische Prozess der gastrointestinalen Infektion, etwa ein Reisedurchfall aus dem Urlaub. Die psychische Verfassung des Individuums ist demnach das Schloss, hinter welchem der Reizdarm lauert. Kommt mit der Infektion noch der richtige Schlüssel hinzu ... 
Heißt das nun, dass du bei der Therapie deines Reizdarms nicht auf Mastzellstabilisatoren wie DNCG oder Histaminblocker setzen solltest. Keineswegs! Sinnvoller ist es hingegen, auf beiden Pfaden zu wirken, um das bestmögliche Ziel zu erreichen. In der wissenschaftlichen Literatur zeigt sich immer stärker, dass die Hirn-Mikrobiom-Darm- und Neuroendokrin-Achsen die zentralen Pfade bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Reizdarms sind. Bespielst du diese bidirektionalen "Telefonleitungen" nur in eine Richtung, bringst du dich möglicherweise um die Hälfte der Effektivität. 
Ich drücke dir von ganzem Herzen beide Daumen für deine Genesung!
Dein Thomas

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Abbildungsverzeichnis

Abb1

Tayama J, Nakaya N, Hamaguchi T, et al. Effects of personality traits on the manifestations of irritable bowel syndrome. Biopsychosoc Med. 2012;6(1):20. Published 2012 Oct 30. doi:10.1186/1751-0759-6-20

 

Abb2+3

Wang K, Wang S, Chen X. The Causal Effects between Mood Swings and Gastrointestinal Diseases: A Mendelian Randomization Study. Alpha Psychiatry. 2024;25(4):533-540. Published 2024 Aug 1. doi:10.5152/alphapsychiatry.2024.241688

 

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